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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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und seiner Bewohner zurückzuführen. Es waren harte Zeiten, und für ein Kind mit nur einem Bein war die Berufswahl vorherbestimmt. Askild Øregod wurde Bettler und war in der heranwachsenden Stadt allseits bekannt. Er hinkte durch alle Straßen, war immer freundlich und jederzeit zu einem Gespräch aufgelegt. Insbesondere mit denen, die schon tagsüber in den Wirtshäusern saßen, keine Arbeit hatten, aber trotzdem hin und wieder erstaunlich viel Geld in den Fingern hielten. Gerne fiel dann auch etwas für Askild Øregod ab. Aber mitunter brauchte auch Askild Øregod etwas mehr Geld, und dann kam es vor, dass er der Polizei verriet, wer in der letzten Zeit besonders großzügig gewesen war. Oder wer irgendwann, tief in seinem vierten Glas versunken und ohne den harmlosen Bettler zu bemerken, damit geprahlt hatte, dass er dabei gewesen sei, als der Goldschmied auf der Karl Johan oder der Holzhändler in Drammen ausgeraubt worden war. Bald machte das Gerücht die Runde, Askild Øregods Ohren seien zu gut, so dass er schließlich nach der Festnahme einer Räuberbande in Kampen für immer verschwand. Askild Øregod wurde nie gefunden, doch eines Wintermorgens lagen auf der Treppe der Gamlebyen Kirche eine Krücke und zwei große, abgetrennte Ohren. Askild sollte irgendwo auf dem Friedhof verscharrt worden sein, ohne dass ein Pfarrer ihn gesegnet hatte. Deshalb irrte er als Geist umher, die Mütze tief in die Augen gezogen. Nach Einbruch der Dunkelheit spukte er hinkend durch Kvadraturen, immer auf der Suche nach seinen Ohren und einer milden Gabe. Es brachte Unglück, wenn man diesem armen Bettler nicht wenigstens ein bisschen was gab.
    Das war Großmutters Geschichte gewesen. Trotzdem ignorierte Truls Berntsen den mageren, bettelnden Mann in den fremdartigen Gewändern und mit der dunklen, rissigen Haut, der am Eingang des Friedhofs hockte. Er ging mit schnellen Schritten über den Hauptweg, bog nach dem siebten Grabstein nach links ab, dann nach dem dritten wieder nach rechts und blieb vor dem vierten Grab stehen.
    Der Name, der in den Stein gehauen war, sagte ihm nichts. A. C. Rud. Er war in dem Jahr gestorben, in dem Norwegen seine Unabhängigkeit erlangt hatte. 1905. Nur neunundzwanzig Jahre alt. Abgesehen vom Geburts- und Sterbedatum hatte der Grabstein keine Inschrift, niemand hatte dem Toten gewünscht, in Frieden zu ruhen, oder ihm irgendwelche anderen »geflügelten« Worte mitgegeben. Vielleicht weil der grobe Stein so klein war, dass nicht viel Text darauf gepasst hatte. Andererseits war die leere, raue Oberfläche des Steins nun eine perfekte Fläche für die kleinen, mit Kreide geschriebenen Nachrichten. Vermutlich hatten sie sich deshalb für dieses Grab entschieden.
    LTZHUDSCORRNTBU – Truls dechiffrierte den Text mit Hilfe des einfachen Kodes, den sie nutzten, damit die Nachrichten nicht von irgendwelchen zufälligen Passanten gelesen werden konnten. Er begann hinten, las die zwei letzten Buchstaben, sprang drei Buchstaben nach links und las diese drei, dann las er wieder zwei, bevor er drei weiter nach links sprang, und so weiter.
    BURN TORD SCHULTZ
    Truls Berntsen notierte sich die Nachricht nicht. Das war nicht nötig. Er hatte ein gutes Gedächtnis für Namen, die ihn seinem Audi Q5 2.0 mit sechs-Gang-Getriebe ein gutes Stück näherbrachten. Mit dem Ärmel der Jacke wischte er die Nachricht aus.
    Der Bettler blickte auf, als Truls den Friedhof wieder verließ. Diese verfluchten, braunen Hundeaugen. Bestimmt befehligte er ein ganzes Bettlerkorps und hatte irgendwo ein fettes Auto stehen. Die fuhren doch immer Mercedes, oder? Die Kirchenglocke schlug. Laut Preisliste kostete der Q5 666 000. Sollte sich darin eine Botschaft verstecken, erkannte Truls Berntsen diese nicht.
    »Du siehst gut aus«, sagte Beate, als sie den Schlüssel ins Schloss schob. »Hast sogar ’nen neuen Finger.«
    »Made in Hongkong«, sagte Harry und rieb den kurzen Titanstummel.
    Er betrachtete die kleine, blasse Frau, während sie die Tür aufschloss. Ihre feinen blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, und ihre Haut war so dünn und durchsichtig, dass er an der Schläfe das filigrane Netz der Adern erkennen konnte. Sie erinnerte ihn an die haarlosen Versuchsmäuse, mit denen sie in der Krebsforschung arbeiteten.
    »Du hast ja geschrieben, dass Oleg am späteren Tatort gewohnt hat, deshalb dachte ich, seine Schlüssel würden vielleicht passen.«
    »Das ursprüngliche Schloss war schon lange kaputt«,

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