Die Larve
verschwand und kam mit einer Archivschachtel wieder.
Wie Harry richtig angenommen hatte, waren Olegs persönliche Sachen, die er bei der Verhaftung bei sich gehabt hatte, im Aufnahmetrakt verblieben. Erst wenn sicher war, dass ein Verfahren gegen die Untersuchungshäftlinge eröffnet wurde und sie nicht nur ein paar Tage in den Arrestzellen blieben, wurden sie in den D-Block des Gefängnisses verlegt, ihre Sachen blieben aber trotzdem häufig noch lange im Aufnahmetrakt.
Harry sah sich den Inhalt an. Kleingeld. Ein Schlüsselring mit zwei Schlüsseln, einem Totenkopf und einem Slayer-Button. Ein Schweizer Armeemesser mit Klinge, Schraubenzieher und Inbusschlüssel. Ein Einwegfeuerzeug. Und etwas, das Harry einen Schlag versetzte, obwohl er damit gerechnet hatte. Die Zeitungen hatten ja von einer »Auseinandersetzung im Drogenmilieu« gesprochen.
Eine Einwegspritze in Originalverpackung.
»Ist das alles?«, fragte Harry, nahm den Schlüsselbund heraus und hielt ihn etwas unterhalb der Tresenplatte, während er die Schlüssel betrachtete. Nilsen schien es nicht zu gefallen, dass er die Schlüssel nicht mehr sehen konnte, und beugte sich vor.
»Kein Portemonnaie?«, fragte Harry. »Weder Bankkarte noch Ausweis?«
»Sieht nicht so aus, nee.«
»Kannst du die Inventarliste für mich überprüfen?«
Nilsen nahm die zusammengefaltete Liste aus der Schachtel, setzte sich mühsam eine Brille auf und warf einen Blick auf das Blatt. »Er hatte noch ein Handy dabei, aber das haben sie mitgenommen. Wollten wohl überprüfen, ob er das Opfer angerufen hatte.«
»Hm«, sagte Harry. »Sonst noch was?«
»Was denn noch?«, fragte Nilsen und ließ seinen Blick über die Liste schweifen. Dann schloss er: »Nee, nichts weiter.«
»Danke, Nilsen, das war dann schon alles.«
Nilsen nickte langsam. Noch immer mit der Brille auf der Nase. »Den Schlüsselbund.«
»Ach ja, sicher.« Harry legte ihn zurück in die Schachtel und beobachtete, wie Nilsen überprüfte, ob noch beide Schlüssel daran waren.
Harry ging nach draußen, überquerte den Parkplatz, lief quer über den Åkebergveien und folgte dann der Urtegata in Richtung Tøyen. Klein-Karachi. Winzige Kolonialwarenläden, Hijab und alte Männer auf Plastikstühlen vor ihren Cafés. Und das Fyrlyset. Das Café der Heilsarmee für die Elenden der Stadt. An Tagen wie diesem war es dort still, aber wenn der Winter und die Kälte kamen, versammelten sie sich dort drinnen an den Tischen. Dann gab es Kaffee und Stullen. Ein paar saubere Kleider, die Mode des vergangenen Jahres und blaue Joggingschuhe aus dem Überhang des Militärs. Auf der Krankenstation im ersten Stock wurden die frischesten Wunden des Drogenschlachtfeldes versorgt oder – wenn es wirklich schlecht stand – Vitamin-B-Spritzen gesetzt. Harry überlegte einen Augenblick, ob er bei Martine vorbeischauen sollte. Vielleicht arbeitete sie noch immer dort. Ein Dichter hatte einmal geschrieben, nach der großen Liebe käme die kleinere. Sie war eine der kleineren gewesen. Aber er war nicht deshalb hier. Oslo war nicht groß, und wer wirklich hart auf Droge war, kam entweder hierher oder ging in das Café der Stadtmission in der Skippergata. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie Gusto Hanssen kannte. Und Oleg.
Trotzdem beschloss Harry, eine Sache nach der anderen anzugehen, in der richtigen Reihenfolge. Er lief weiter, überquerte den Akerselva und sah von der Brücke nach unten in den Fluss. Das braune Wasser, das Harry noch aus seiner Kindheit kannte, war klar wie ein Gebirgsbach. Es hieß, man könne hier jetzt Forellen fangen. Doch auf den Pfaden rechts und links des Flusses war alles wie früher. Dort standen die Dealer. Alles neu. Nichts anders.
Er bog in die Hausmanns gate. Passierte die Jakobskirche. Achtete auf die Hausnummern. Ein Schild warb für das Theater der Grausamkeiten. Eine kaputte Tür mit einem Smiley. Eine kahle Lücke zwischen zwei Häusern, hier hatte es mal gebrannt. Und dann war er da. Ein typisches Osloer Stadthaus aus dem 19. Jahrhundert, blass, nüchtern, drei Stockwerke. Harry drückte gegen die Tür. Sie war unverschlossen. Im Treppenhaus stank es nach Urin und Müll.
Harry registrierte die kodierten Tags im Treppenhaus. Das Geländer war lose. Türen mit alten, aufgebrochenen Schlössern neben neuen stabileren Sicherheitsschließsystemen. Doppelschlössern. Im zweiten Stock blieb er vor einer Tür stehen, über die sich kreuz und quer weißoranges Absperrband spannte. Er hatte den
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