Die Larve
wie immer, nur noch etwas mehr verfallen. Er ging in die Herrengarderobe. Auf dem Boden lag Müll, ganz offensichtlich kam hier nur selten und in zeitlich großen Abständen jemand her. Hier konnte man allein sein. Harry trat zwischen die Spinde. Die meisten waren unverschlossen. Doch dann fand er, wonach er suchte, ein Abus-Vorhängeschloss.
Er presste die Spitze des Schlüssels gegen die gezackte Öffnung, aber er passte nicht. Mist!
Harry drehte sich um. Ließ seinen Blick über die Reihe der verbeulten Stahlschränke schweifen, hielt inne und ging einen Schrank zurück. Auch dieser Spind hatte ein Abus-Schloss. Und einen Kreis, der in die grüne Farbe geritzt war. Ein »O«.
Das Erste, was Harry sah, als er die Tür aufschloss, waren Olegs Eisschnelllaufschuhe. Die langen, schlanken Kufen hatten direkt über der Auflagefläche einen dünnen roten Rostausschlag. Auf der Innenseite der Spindtür hingen zwei Bilder zwischen den Belüftungsritzen. Zwei Familienfotos. Das eine zeigte fünf Gesichter. Zwei der Kinder und die beiden, die er für die Eltern hielt, kannte er nicht, das dritte aber hatte er gerade erst auf anderen Bildern gesehen. Den Bildern vom Tatort.
Es war die Schönheit. Gusto Hanssen.
Harry fragte sich, ob diese Schönheit der Grund dafür war, dass Gusto Hanssen irgendwie nicht in dieses Bild passte.
Oder, genauer gesagt, in diese Familie.
Seltsamerweise hatte er diesen Eindruck bei dem anderen Foto nicht. Es zeigte einen großen, blonden Mann, der hinter einer dunkelhaarigen Frau und ihrem Sohn saß. Das Bild war vor ein paar Jahren an einem Herbsttag aufgenommen worden. Sie hatten eine Wanderung oben am Holmenkollen gemacht, waren durch leuchtend oranges Laub gewatet, bis Rakel dann irgendwann ihre kleine Kamera auf einen Stein gestellt und auf den Selbstauslöser gedrückt hatte.
War dieser Mann wirklich er selbst? Harry konnte sich nicht daran erinnern, jemals so weiche Gesichtszüge gehabt zu haben wie auf diesem Bild.
Rakels Augen glänzten, und er konnte ihr Lachen fast hören. Wie sehr hatte er dieses Lachen geliebt. Er war es nie leid geworden, hatte immer wieder versucht, ihr dieses Lachen zu entlocken. Sie lachte auch, wenn sie mit anderen zusammen war, aber bei Oleg und ihm hatte dieses Lachen eine etwas andere Klangfarbe, einen Ton, der nur für sie beide reserviert war.
Harry durchsuchte den Rest des Schranks.
Auf der Ablage lag ein weißer Pullover mit hellblauen Streifen. Das war nicht Olegs Stil, er trug immer nur kurze Jacken und schwarze Slayer- oder Slipknot-T-Shirts. Harry roch an dem Pullover und nahm einen leichten Parfümgeruch wahr. Feminin. Oben auf der Hutablage lag eine Plastiktüte. Er öffnete sie. Atmete schnell. Es war Drogenbesteck. Zwei Spritzen, ein Löffel, ein Gummiband, ein Feuerzeug und eine Rolle Baumwollwatte. Das Einzige, was fehlte, war Dope. Harry wollte die Tüte grade wieder zurücklegen, als ihm noch etwas anderes auffiel. Ganz hinten im Schrank lag ein rotweißes Trikot. Er nahm es heraus. Auf der Brust war eine Aufforderung: Fly Emirates. Arsenal.
Er sah zu dem Bild auf, zu Oleg. Sogar er lächelte. Lächelte, als glaubte auch er in diesem Moment an sie drei, an ihre Einheit, daran, dass alles gut war, alles gutgehen würde und das Leben so war, wie es sein sollte. Warum es also in den Sand setzen? Warum die Kontrolle verlieren, wenn man am Steuer sitzt?
»Wie du gelogen hast, dass du immer für uns da bist.«
Harry nahm die Bilder von der Schranktür und steckte sie in die Innentasche seines Jacketts.
Als er nach draußen trat, ging die Sonne hinter dem Ullernåsen unter.
Kapitel 8
Siehst du, dass ich blute, Papa? Dass ich dein Scheißblut blute. Und deines, Oleg. Du bist es, für den diese Kirchenglocke jetzt eigentlich läuten sollte. Ich verfluche dich, verfluche den Tag, an dem ich dir begegnet bin.
Du warst auf einem Konzert im Spektrum, Judas Priest. Ich hab draußen gewartet und mich dann unter die herausströmenden Menschen gemischt.
»Wow, cooles T-Shirt«, sagte ich. »Wo hast du das denn her?«
Du hast mich seltsam angesehen. »Aus Amsterdam.«
»Echt, du hast in Amsterdam Judas Priest gesehen, wirklich?«
»Ja, warum denn nicht?«
Ich wusste nicht die Bohne von Judas Priest, bloß, dass es sich um eine Band handelte und der Sänger Rob und irgendwie weiter hieß.
»Fett! Priest bringt’s.«
Du bist für einen Augenblick erstarrt und hast mich angesehen. Konzentriert, wie ein Tier, das Witterung aufnimmt. Eine
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