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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Martine und kämpfte sich aus dem Stuhl hoch. »Ich bin gleich wieder da.«
    »Geh nur, ich muss ohnehin weiter«, sagte Harry.
    »Wohin denn?«
    Es entstand eine kurze, stille Pause, als beiden aufging, dass Harry auf diese Frage keine vernünftige Antwort hatte.
    Tord Schultz saß am Küchentisch vor dem Fenster. Die Sonne stand tief, aber es war noch hell genug, um jeden zu erkennen, der sich über den Weg zwischen den Häusern näherte. Die Straße selbst sah er allerdings nicht. Er biss noch einmal in sein Wurstbrot.
    Ein Flugzeug nach dem anderen flog über das Hausdach. Landete und hob ab. Landete und hob ab.
    Tord Schultz achtete auf die unterschiedlichen Motorengeräusche. Sie waren wie eine Zeitachse: Die alten Motoren klangen richtig, sie hatten die brummende, warme Glut, die die guten Erinnerungen weckte. Sie ergaben Sinn, waren wie der Soundtrack seines Lebens, des Anfangs seines Lebens: Arbeit, Pünktlichkeit, Familie, die Liebe einer Frau, die Anerkennung der Kollegen. Die neue Generation Motoren verdrängte mehr Luft. Sie war hektisch, kam mit weniger Sprit schneller vorwärts, war effektiver, hatte aber weniger Zeit für das Unwesentliche. Auch für die wesentlichen Aspekte des Unwesentlichen. Er blickte zu der großen Uhr, die wieder auf dem Kühlschrank stand. Sie tickte schnell und rastlos wie ein ängstliches, kleines Herz. Sieben. Noch zwölf Stunden. Bald würde es dunkel sein. Er hörte eine Boeing 747. Der Klassiker, die beste. Das Geräusch nahm an Stärke zu, bis das Brüllen die Scheiben erzittern ließ und das Glas, das neben der halbvollen Flasche auf dem Tisch stand, leise zu klirren begann. Tord Schultz schloss die Augen. Für ihn war dies das Geräusch der Zuversicht, des Glaubens an die Zukunft, der puren Macht und der wohlbegründeten Arroganz. Das Geräusch der Unüberwindbarkeit eines Mannes im besten Alter.
    Als das Geräusch verstummte und im Haus plötzlich wieder Stille herrschte, spürte er, dass diese Stille irgendwie anders war. Als hätte die Luft eine andere Dichte angenommen.
    Als wäre sie bevölkert.
    Er drehte sich ganz um und sah ins Wohnzimmer. Durch die Türöffnung erkannte er die Trainingsbank und den äußersten Rand des Couchtisches. Er achtete auf die Schatten, die aus dem Bereich, den er nicht einsehen konnte, auf das Parkett fielen, hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Nur das Ticken der Uhr oben auf dem Kühlschrank. Dann biss er noch einmal von seinem Brot ab, trank einen Schluck aus dem Glas und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Eine große Maschine war im Anflug. Sie kam von hinten und erstickte das Geräusch der Zeit, die weitertickte. Dann dachte er, dass die Maschine genau zwischen Haus und Sonne hindurchfliegen musste, denn plötzlich fiel ein Schatten auf den Tisch.
    Harry verließ die Urtegata und lief über die Platous gate hinunter zum Grønlandsleiret. Wie auf Autopilot steuerte er das Präsidium an. Im Botsparken blieb er stehen. Sah zum Gefängnis hinüber, zu der soliden, grauen steinernen Fassade.
    »Wohin denn?«, hatte sie gefragt.
    Zweifelte er eigentlich wirklich daran, wer Gusto Hanssen umgebracht hatte?
    Jeden Tag kurz vor Mitternacht ging ein SAS -Flug von Gardermoen nach Bangkok. Und von dort hatte er fünfmal täglich Anschluss nach Hongkong. Sollte er direkt zum Leons gehen, Koffer packen und auschecken? Er würde dafür nicht mehr als fünf Minuten brauchen. Dann mit dem Flughafenzug nach Gardermoen und am SAS -Schalter ein Ticket kaufen? Essen und Zeitungen in der entspannten, unpersönlichen Transitstimmung des Flughafens?
    Harry drehte sich um und bemerkte, dass das rote Konzertplakat vom Tag zuvor verschwunden war.
    Er ging weiter über die Oslo gate und vorbei am Minneparken nahe dem Gamlebyen Friedhof, als er aus dem Dunkel neben dem Zaun eine Stimme mit schwedischem Akzent hörte.
    »Haste mal ssweihundert über?«
    Harry zögerte einen Augenblick, und der Bettler trat vor. Er trug einen langen, zerrissenen Mantel, und das Licht der Scheinwerfer fiel schräg von hinten auf seinen Kopf, so dass die Ohren Schatten auf sein Gesicht warfen.
    »Ich gehe mal davon aus, dass du die geliehen haben willst?«, sagte Harry und holte sein Portemonnaie heraus.
    »Kollekte«, sagte Cato und streckte seine Hand aus. »Die kriegst du nie wieder ssurück. Ich habe meine Brieftasse im Leons vergessen.« Sein Atem hatte nicht den Hauch von Alkohol oder Bier. Der Alte roch bloß nach Tabak und nach etwas, das Harry an seine Kindheit

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