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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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es endlich heraus war.
    »Trotzdem muss ich Ihnen auch Respekt zollen, einfach so hierherzukommen und alle Karten auf den Tisch zu legen. Ich weiß, dass Sie wissen, was Sie riskieren. Die nächste Zeit wird schwer für Sie werden, Schultz.«
    Mit diesen Worten erhob sich der Dezernatsleiter und reichte ihm die Hand. Tord dachte, was er schon gedacht hatte, als er ihn am Eingang auf sich zukommen gesehen hatte. Mikael Bellman hatte die perfekte Größe für einen Jagdflieger.
    Etwa als Tord Schultz das Präsidium verließ, klingelte Harry Hole an Rakels Tür. Sie öffnete noch im Morgenmantel und mit kleinen Augen. Gähnte.
    »Etwas später sehe ich in der Regel besser aus«, sagte sie.
    »Gut, dass das wenigstens für einen von uns gilt«, sagte Harry und trat ein.
    »Viel Glück«, sagte sie, als sie im Wohnzimmer vor dem Tisch mit den Papierstapeln standen. »Ich habe alles hier: Ermittlungsberichte, Bilder, Zeitungsausschnitte. Zeugenaussagen. Er ist wirklich gründlich. Ich muss jetzt aber zur Arbeit.«
    Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hatte Harry sich seinen ersten Kaffee gekocht und mit der Arbeit angefangen.
    Nach drei Stunden Lektüre machte er die erste Pause, um gegen den aufkommenden Missmut anzukämpfen. Er nahm die Tasse und stellte sich ans Küchenfenster. Ermahnte sich, dass er hier war, um Zweifel an seiner Schuld zu finden und nicht an seiner Unschuld. Zweifel reichten doch schon. Und trotzdem. Das Material war eindeutig. Und all die Erfahrungen, die er in seinen Jahren als Mordermittler gesammelt hatte, arbeiteten gegen ihn: Die Dinge lagen verblüffend oft genau so, wie es aussah.
    Nach drei weiteren Stunden des Aktenstudiums war sein Eindruck derselbe. Es gab in all dem Material nicht ein Indiz, das eine andere Erklärung zuließ. Natürlich bedeutete das nicht, dass es dieses Indiz nicht gab, nur eben nicht in diesem Material, redete er sich selbst ein.
    Er brach auf, bevor Rakel nach Hause kam, und begründete das vor sich selbst mit dem Jetlag. Er musste schlafen. Dabei kannte er die wahren Gründe ganz genau. Er hatte Angst davor, ihr zu sagen, dass es ihm nach all dem, was er gelesen hatte, schwerfiel, seine Zweifel aufrechtzuerhalten. Dabei sollten diese Zweifel die Wahrheit sein, der Weg und das Leben, die einzig mögliche Erlösung.
    Er zog sich an und ging den ganzen Weg vom Holmenkollen über Ris, Sogn, Ullevål und Bolteløkka zum Restaurant Schrøder zu Fuß. Überlegte, ob er hineingehen sollte, ließ es dann aber bleiben. Stattdessen ging er weiter in Richtung Osten, über den Fluss nach Tøyen.
    Als er die Tür des Fyrlyset öffnete, wurde das Tageslicht bereits schwächer. Alles war, wie er es in Erinnerung hatte. Helle Wände, helle Café-Einrichtung und große Fenster, die möglichst viel Licht hereinließen. Und in diesem Licht saß die Nachmittagskundschaft bei Kaffee und geschmierten Broten. Einige hingen mit hängenden Köpfen über den Tischen, als wären sie gerade erst nach einem Fünfzigkilometerlauf durchs Ziel gegangen, andere führten abgehackte Gespräche in einer unverständlichen Stakkato-Sprache, und wieder andere waren Menschen, die auch inmitten der gutbürgerlichen Kinderwagenarmada in den United Bakeries nicht aufgefallen wären.
    Ein paar der Anwesenden hatten neue gebrauchte Kleider ausgeteilt bekommen, die noch in den Plastiktüten lagen, die neben ihnen standen. Andere hatten sich direkt umgezogen und sahen jetzt aus wie Versicherungsagenten oder Kleinstadtlehrerinnen. Harry bahnte sich einen Weg zum Tresen, und ein rundliches Mädchen mit dem Kapuzenpulli der Heilsarmee bot ihm lächelnd einen Gratiskaffee und eine Scheibe Vollkornbrot mit braunem Käse an.
    »Heute nicht, danke. Hat Martine Dienst?«
    »Die arbeitet heute in der Praxis …«
    Das Mädchen zeigte mit dem Finger nach oben zum ersten Stock, in dem die Ambulanz der Heilsarmee lag.
    »Sie sollte aber gleich fert…«
    »Harry!«
    Er drehte sich um.
    Martine Eckhoff war noch immer so klein wie früher. Das lächelnde Katzengesicht mit dem überproportional breiten Mund und der sich nur als kleine Erhöhung von dem winzigen Gesicht abhebenden Nase war unverkennbar. Ihre Pupillen sahen aus, als wären sie zum Rand der braunen Iris verlaufen. Sie hatten die Form eines Schlüsselbunds, was Martine ihm einmal mit einer angeborenen Fehlentwicklung namens Iris coloboma erklärt hatte.
    Die kleine Frau stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte Harry lange. Als sie sich schließlich von

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