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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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tobte. Er spürte die Sucht des Jungen beinahe physisch in sich selbst und wusste genau, dass es in diesen Momenten nichts anderes gab, keine Moral, keine Liebe, keine Rücksicht, nur den ewig hämmernden Gedanken an den Kick, den Rausch, den Frieden. Harry war einmal in seinem Leben kurz davor gewesen, sich selbst einen Schuss Heroin zu setzen, doch ein Zufall, ein Augenblick der Klarheit, hatte ihn nein sagen lassen. Vielleicht war es die Gewissheit gewesen, dass das Heroin schaffen würde, was der Alkohol bis dahin nicht geschafft hatte: ihm das Leben zu nehmen. Oder es war das Mädchen gewesen, das ihm erzählt hatte, dass sie schon nach dem ersten Schuss mit Leib und Seele abhängig gewesen war, weil nichts – nichts, das sie jemals erlebt oder sich auch nur vorstellen konnte – die Ekstase übertraf, die sie da gespürt hatte. Vielleicht war es aber auch sein Kumpel aus Oppsal, der eine Entziehungskur gemacht hatte, nur um seine Toleranz auf null zu bringen, um so beim nächsten Schuss noch einmal – wie er hoffte – das grenzenlose Erlebnis seines ersten Rauschs zu haben. Derselbe hatte ihm später einmal gesagt, dass er beim Anblick der Impfwunde im Oberschenkel seines drei Monate alten Sohns plötzlich von einem derart starken Sog erfasst worden war, dass er bereit gewesen war, alles aufzugeben und direkt aus der Praxis zur Plata zu laufen.
    »Lass uns einen Deal machen«, sagte Harry und hörte, wie belegt seine Stimme klang. »Ich verschaffe dir, was du willst, und du erzählst mir alles, was du weißt.«
    »Okay!«, sagte Oleg, und Harry konnte erkennen, wie sich die Pupillen des Jungen weiteten. Er hatte irgendwo gelesen, dass bei jungen Abhängigen Teile des Hirns aktiviert werden konnten, noch bevor sie sich wirklich die Spritze gesetzt hatten. Sie konnten schon high werden, wenn sie das Pulver einschmolzen und die Ader aufpumpten. Harry wusste, dass es diese Teile von Olegs Gehirn waren, die jetzt sprachen, und dass es dort drinnen keine andere Antwort gab als »okay!«, egal, ob Lüge oder Wahrheit.
    »Aber ich will das Zeug nicht auf der Straße kaufen«, sagte Harry. »Hast du in deinem Versteck noch Violin?«
    Oleg sah aus, als zögerte er eine Sekunde. »Du warst doch bei meinem Versteck.«
    Harry wusste genau, wie heilig den Junkies ihr Versteck war.
    »Komm schon, Oleg. Du bewahrst dein Dope nicht an einem Ort auf, an dem ein anderer Abhängiger Zutritt hat. Wo ist dein Reservelager, dein zweites Versteck?«
    »Ich habe nur das eine.«
    »Ich nehm dir nichts weg!«
    »Ich sage doch, ich habe kein zweites Versteck!«
    Harry hörte deutlich, dass er log, aber so wichtig war das nicht, vermutlich bedeutete es nur, dass Oleg dort kein Violin hatte.
    »Ich komme morgen wieder«, sagte Harry, stand auf, klopfte an die Tür und wartete. Aber niemand kam. Irgendwann drückte er die Klinke nach unten. Die Tür war unverschlossen. Definitiv kein Hochsicherheitstrakt.
    Harry ging denselben Weg zurück, den er gekommen war. Der Flur war leer, und auch im Gemeinschaftsraum war niemand. Automatisch ging Harrys Blick zur Teeküche. Brotaufstrich und Brot waren noch da, das Messer aber war weggeräumt worden. Er ging weiter auf die Tür zu, die aus der Abteilung zur Galerie führte, und bemerkte zu seiner Überraschung, dass auch diese Tür offen stand.
    Erst an der Pforte fand er verschlossene Türen. Er sprach die Pförtnerin hinter der Glasscheibe darauf an, und sie zog eine Augenbraue hoch und warf einen Blick auf die Monitore über sich. »Weiter als bis zu mir kommt doch keiner.«
    »Abgesehen von mir, hoffe ich.«
    »Häh?«
    »Ach nichts.«
    Harry war vielleicht hundert Meter durch den Park in Richtung Grønlandsleiret gelaufen, als er es endlich kapierte. Die leeren Räume, die offenen Türen, das Brotmesser. Er blieb wie angewurzelt stehen. Dann beschleunigte sein Herz derart schnell, dass ihm übel wurde. Er hörte einen Vogel zwitschern, roch das Gras, schwang herum und rannte zurück zum Gefängnis. Sein Mund war trocken von Furcht und dem Adrenalin, das sein Herz in das Blut pumpte.
    Kapitel 14
    Violin traf Oslo wie ein verfickter Asteroid. Oleg hatte mir den Unterschied zwischen Meteoriten und Asteroiden erklärt und über all den Scheiß geredet, der uns jederzeit auf den Kopf fallen könnte, so dass ich ganz genau wusste, dass wir es hier mit einem Asteroiden zu tun hatten, also so einem Scheißteil, das die Erde richtig plattmachen kann mit seinem … verdammt, du weißt schon, was ich

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