Die Larve
zeigte einen jungen Mann, der in einen Landrover stieg. Das Nummernschild war gut zu erkennen. Der junge Mann war ich. Das Auto gehörte Isabelle Skøyen.
Mir lief es kalt über den Rücken. »Woher …?«
»Lieber Gusto, ich habe dir doch gesagt, dass ich dich beobachtet habe. Was ich von dir will, ist Folgendes: Du nimmst Kontakt zu Isabelle Skøyen auf – über ihre private Nummer, die hast du ja wohl – und erzählst ihr, welche Version dieser Geschichte wir für die Presse vorbereitet haben. Und dann bittest du sie um ein ganz privates Treffen mit uns dreien.«
Er trat ans Fenster und blickte nach draußen in das trostlose Wetter.
»Du wirst schon sehen, sie wird einen Termin für uns freihaben.«
Kapitel 15
I m Laufe der letzten drei Jahre in Hongkong war Harry mehr gejoggt als in seinem gesamten Leben zuvor. Trotzdem spielte sein Hirn innerhalb der dreizehn Sekunden, die er für die hundert Meter zurück zum Eingang des Gefängnisses brauchte, verschiedene Szenarien durch, die alle zu demselben Ergebnis kamen: Er würde zu spät kommen.
Er klingelte und kämpfte gegen seinen Drang an, an der Tür zu rütteln, während er auf das Summen des automatischen Türöffners wartete. Endlich brummte es, und er stürmte über die Treppe nach oben zur Pforte.
»Was vergessen?«, fragte die Pförtnerin.
»Ja«, sagte Harry und wartete, bis sie ihn durch die verschlossene Tür gelassen hatte. »Schlagen Sie Alarm«, rief er, stellte den Aktenkoffer ab und rannte weiter. »Die Zelle von Oleg Fauke!«
Das Echo seiner Schritte hallte durch das leere Atrium, die verwaisten Flure und den ebenso menschenleeren Gemeinschaftsraum, dessen Wände sein aufgeregtes Keuchen zurückwarfen.
Olegs Schrei erreichte ihn, als er auf den letzten Flur kam.
Seine Zellentür stand halb offen, und Sekunden bevor er sie erreichte, war alles wie in seinem Alptraum, die Lawine kam auf ihn zu, seine Füßen wollten sich aber nicht schnell genug bewegen.
Dann war er in der Zelle und nahm die Bilder in sich auf.
Der Tisch war umgeworfen worden, und Papier und Bücher lagen auf dem Boden verteilt. Ganz hinten in der Zelle, den Rücken an den Schrank gedrückt, stand Oleg. Das schwarze Slayer-T-Shirt war durchnässt von Blut. Vor sich hielt er den metallenen Deckel des Mülleimers. Sein Mund war geöffnet, und er schrie und schrie. Vor Oleg erblickte Harry den Rücken eines Gymtec-Unterhemdes, aus dem ein breiter, verschwitzter Stiernacken herauswuchs, der in einem kahlen Schädel endete, über dem wiederum eine Faust mit hocherhobenem Brotmesser schwebte. Metall schepperte, als die Klinge den Deckel traf. Der Mann musste die Veränderung des Lichts bemerkt haben, denn im nächsten Augenblick wirbelte er herum, senkte den Kopf und hielt das Messer tief vor sich, so dass es auf Harry zeigte.
»Raus!«, fauchte er.
Harry ließ sich nicht dazu verleiten, seine Augen auf das Messer zu richten, sondern fokussierte die Füße des Mannes. Im Hintergrund registrierte er, dass Oleg langsam zu Boden sank. Verglichen mit jemandem, der Kampfsport machte, verfügte Harry nur über ein trauriges Repertoire an Angriffstechniken. Er kannte ganze zwei. Und auch nur zwei Regeln. Erstens, dass es keine Regeln gab, und zweitens, dass er als Erster angreifen musste. Als Harry handelte, tat er dies mit den automatisierten Bewegungen eines Menschen, der nur zwei Methoden des Angriffs gelernt, trainiert und immer wiederholt hatte. Er trat direkt auf das ausgestreckte Messer zu, so dass der Mann es von ihm wegbewegen musste, um Kraft in den Stoß legen zu können. Als der Mann diese Bewegung begann, hatte Harry den rechten Fuß gehoben und die Hüfte gedreht, und noch bevor das Messer wieder zu einer Gefahr wurde, schnellte Harrys Fuß nach unten. Er traf die Oberseite der Kniescheibe des Mannes. Und da die menschliche Anatomie keinen sonderlichen Schutz gegen Gewalt aus diesem seltsamen Winkel kennt, riss erst der Quadriceps, dann die Bänder im Kniegelenk und schließlich, als die Kniescheibe nach unten gedrückt wurde, auch die Patellarsehne.
Der Mann sackte schreiend zusammen. Das Messer rutschte ihm durch die Finger und fiel klirrend zu Boden, und seine Hände zuckten zu seiner Kniescheibe. Blankes Entsetzen stand in seinen Augen, als seine Finger die Kniescheibe viel weiter unten fanden.
Harry kickte das Messer weg und hob den Fuß, um den Angriff, wie er es gelernt hatte, mit einem Tritt auf den Oberschenkel des am Boden Liegenden zu beenden. Damit
Weitere Kostenlose Bücher