Die Larve
Oleg. »Weder darin noch im Tauchen.«
»Damals im Frognerbad? Hm, wenn ich mich richtig erinnere, bin ich damals einen Meter weiter gekommen als du …«
»Du warst einen Meter hinter mir! Mama war Zeugin!«
Harry blieb ganz still stehen, um die Stimmung nicht zu zerstören, und sog die Freude über die Freude im Gesicht des anderen in sich auf.
»Worüber wolltest du mit mir reden, Oleg?«
Wolken zogen über das Gesicht des Jungen. Er fingerte an dem Gameboy herum, drehte und wendete ihn, als wäre er auf der Suche nach dem Startknopf.
»Nimm dir die Zeit, die du brauchst, Oleg. Aber oft ist es am einfachsten, mit dem Anfang anzufangen.«
Der Junge hob den Kopf und sah Harry an: »Kann ich dir vertrauen? Egal, was?«
Harry wollte etwas sagen, hielt dann aber inne und nickte nur.
»Du musst mir helfen, ich brauche was …«
Es war, als drehte jemand ein Messer in Harrys Herz herum. Die Fortsetzung brauchte er gar nicht mehr zu hören.
»Die haben hier im Haus bloß Boy und Speed, ich aber brauche Violin. Kannst du mir helfen, Harry?«
»Hast du mich deshalb gebeten zu kommen?«
»Du bist der Einzige, der es geschafft hat, das Besuchsverbot zu umgehen.« Oleg starrte Harry mit seinem schwarzen, ernsten Blick an. Nur das kleine Zucken der dünnen Haut unter einem Auge verriet seine Verzweiflung.
»Du weißt, dass ich das nicht tun kann, Oleg.«
»Klar kannst du!« Seine Stimme hallte hart und metallisch zwischen den Zellwänden wider.
»Was ist denn mit dem, für den du gedealt hast. Kann der dich nicht versorgen?«
»Was gedealt?«
»Verdammt, lüg mich nicht an!« Harry schlug mit der flachen Hand auf den Deckel seines Aktenkoffers. »Ich habe das Arsenal-Trikot in deinem Garderobenschrank im Valle Hovin gefunden.«
»Du hast den aufgebrochen …?«
»Die hier habe ich auch gefunden.« Harry warf die Fotografie der fünfköpfigen Familie vor ihn auf den Tisch. »Das Mädchen auf dem Foto. Weißt du, wo sie ist?«
»Wer …?«
»Irene Hanssen. Ihr wart ein Paar.«
»Wie …?«
»Man hat euch im Fyrlyset gesehen, in deinem Spind ist ein Pullover, der nach einer Blumenwiese riecht, und außerdem Besteck für zwei. Sein Drogenversteck zu teilen ist intimer, als miteinander ins Bett zu gehen, also lüg mich nicht an. Und dann hat deine Mutter mir noch erzählt, dass du wie ein glücklicher Idiot ausgesehen hast, als sie dich in der Stadt gefunden hat. Meine Diagnose lautet also: frisch verliebt.«
Der Adamsapfel hüpfte an Olegs Hals auf und ab.
»Nun?«, sagte Harry.
»Ich weiß nicht, wo sie ist! Okay? Sie ist einfach verschwunden. Möglicherweise ist wieder ihr großer Bruder gekommen und hat sie mitgenommen. Oder sie macht irgendwo eine Entziehungskur. Vielleicht hat sie auch einen Flieger genommen und ist einfach weg von dem ganzen Scheiß hier.«
»Oder es ist nicht so gut gelaufen«, sagte Harry und setzte sich. »Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Du weißt das auf die Stunde genau.«
Oleg schloss die Augen. »Das ist einhundertundzweiundzwanzig Tage her. Lange vor der Sache mit Gusto, was hat das also damit zu tun?«
»Das hängt alles irgendwie zusammen, Oleg. Ein Mord ist ein weißer Wal. Ebenso eine Person, die einfach so verschwindet. Und wenn du zweimal einen weißen Wal siehst, dann ist das dasselbe Tier, Oleg. Was kannst du mir über Dubai erzählen?«
»Das ist die größte Stadt, nicht aber die Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emi…«
»Warum schützt du ihn, Oleg? Was kannst du mir nicht sagen?«
Oleg hatte den Startknopf des Gameboys gefunden und bewegte ihn hin und her. Dann klappte er den Deckel des Batteriefachs hoch, nahm den Metalldeckel vom Mülleimer, der neben dem Bett stand, und ließ die Batterien hineinfallen, ehe er Harry das Spielzeug zurückgab.
»Tot.«
Harry blickte auf den Gameboy und ließ ihn in seine Tasche gleiten.
»Wenn du mir kein Violin beschaffen kannst, drücke ich mir diese gequirlte Scheiße, die du hier kriegen kannst. Schon mal was von Fentanyl und Heroin gehört?«
»Fentanyl ist der erste Schritt zu einer Überdosis, Oleg.«
»Genau. Du kannst Mama dann ja hinterher sagen, dass es deine Schuld ist.«
Harry antwortete nicht. Olegs lächerlicher Versuch der Manipulation machte ihn nicht wütend, im Gegenteil, am liebsten hätte er den Jungen umarmt und an sich gezogen. Harry brauchte die Tränen nicht zu sehen, die in Olegs Augen standen, um zu wissen, welcher Kampf in seinem Kopf und Körper
Weitere Kostenlose Bücher