Die Larve
und Empfangsleute. Sie versuchten, sich einen Überblick zu verschaffen und zu jedem, der kam oder ging, Informationen zu sammeln. Wenn er als Ermittler persönliche Details zum Arbeitsumfeld eines Menschen gebraucht hatte, war er immer zuerst zum Pförtner gegangen.
Sie beschrieb Harry den Weg zu dem Büro am Ende des Flurs und zeigte ihm die Richtung. Er kam an vielen geschlossenen Bürotüren vorbei, aber auch an Glastüren, hinter denen Labore lagen, in denen Menschen mit weißen Kitteln arbeiteten. An den Wänden standen Regale mit Reagenzgläsern und Stahlschränke mit großen Vorhängeschlössern. Für einen Drogenabhängigen waren diese Räume sicher das reinste Eldorado, dachte Harry.
Am Ende des Flures blieb er vor einer geschlossenen Tür stehen. Sicherheitshalber warf er einen Blick auf das Namensschild, bevor er an die Tür klopfte. Stig Nybakk. Schon nach dem ersten Klopfen hörte er: »Herein!«
Nybakk stand hinter seinem Schreibtisch. Er telefonierte, winkte Harry aber heran und bat ihn mit einer Geste, Platz zu nehmen.
Nach drei »ja«, zwei »nein«, einem »verdammt noch mal!« und einem herzlichen Lachen legte er auf und richtete seine lebhaften Augen auf Harry, der aus alter Gewohnheit auf dem Stuhl nach vorn gerutscht war und die Beine ausgestreckt hatte.
»Harry Hole. Sie erinnern sich bestimmt nicht an mich, aber ich erinnere mich an Sie.«
»Ich habe so viele festgenommen«, sagte Harry.
Erneutes herzliches Lachen.
»Wir waren beide in Oppsal auf der Schule. Ich war ein paar Klassen unter Ihnen.«
»Die Jüngeren erinnern sich immer an die Älteren.«
»Das mag wohl stimmen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, erinnere ich mich gar nicht wegen der Schule. Sie waren im Fernsehen, und anschließend hat mir jemand erzählt, dass Sie in Oppsal auf der Schule und mit Holzschuh befreundet waren?«
»Hm.« Harry blickte auf seine Schuhspitzen, um zu signalisieren, dass er keine Lust darauf hatte, über Privates zu reden.
»Sie sind also Polizeiermittler geworden? In welchem Mordfall ermitteln Sie jetzt?«
»Ich«, sagte Harry, um sich weitestmöglich an die Wahrheit zu halten, »ermittle in einem Drogenmord. Haben Sie einen Blick auf den Stoff werfen können, den ich Ihnen geschickt habe?«
»Ja.« Nybakk nahm wieder den Telefonhörer ab, wählte eine Nummer und kratzte sich beim Warten frenetisch am Hinterkopf. »Martin, kannst du kurz rüberkommen? Es geht um diese Probe.«
Nybakk legte auf und versuchte, die folgenden drei Sekunden Stille mit einem Lächeln zu überbrücken. Harry wusste, dass er nach einem Thema suchte, mit dem er die Pause füllen könnte. Harry sagte nichts. Nybakk räusperte sich. »Sie wohnten doch in dem gelben Haus neben dem Sportplatz, oder? Ich bin in dem roten Haus ganz oben auf dem Hügel aufgewachsen. Familie Nybakk, sagt Ihnen das was?«
»Ach, ja«, log Harry und stellte wieder einmal fest, wie wenig er sich an seine Kindheit erinnerte.
»Haben Sie das Haus noch?«
Harry lagerte seine Beine um. Er wusste, dass er diesem Kampf ein Ende bereiten konnte, bevor dieser Martin kam. »Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben. Der Verkauf hat sich etwas in die Länge gezogen, aber …«
»Alte Gespenster …«
»Bitte?«
»Die müssen erst zu spuken aufhören, bevor man verkaufen kann, nicht wahr? Meine Mutter ist im letzten Jahr gestorben, das Haus habe ich aber noch immer, obwohl es leer steht. Verheiratet? Kinder?«
Harry schüttelte den Kopf. Und spielte dem anderen den Ball zu. »Aber Sie sind verheiratet, das sehe ich.«
»Oh?«
»Der Ring.« Harry deutete auf die Hand seines Gegenübers. »Ich hatte einen ganz ähnlichen.«
Nybakk hob die Hand mit dem Ring an und lächelte. »Hatten? Sind Sie geschieden?«
Harry fluchte innerlich. Warum mussten Menschen immer miteinander reden? Geschieden? Natürlich war er geschieden. Geschieden von der, die er liebte. Denen, die er liebte. Harry räusperte sich.
»Da bist du ja«, sagte Nybakk.
Harry drehte sich um. Eine gebeugte Gestalt in einem blauen Laborkittel stand in der Tür und blinzelte zu ihnen herüber. Der schwarze, lange Pony hing ihm tief in die fast weiße, hohe Stirn. Die Augen lagen tief. Harry hatte ihn nicht einmal kommen hören.
»Das ist Martin Pran, einer unserer besten Wissenschaftler«, sagte Nybakk.
Das, dachte Harry, ist der Glöckner von Notre-Dame.
»Und, Martin?«, fragte Nybakk.
»Dieser Stoff, den Sie Violin nennen, das ist kein Heroin, hat aber Ähnlichkeit mit
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