Die Larve
letzte Mal kurz nach halb zwei in der Nacht.« Harry hatte sich auf einen der Barhocker geschoben. Isabelle Skøyen kam die drei Meter zurück. Sie überragte ihn. Harry dachte an Rotkäppchen und den Wolf. Wobei hier nicht sie das Rotkäppchen war.
»Was willst du, Bürschchen?«, fragte sie.
»Ich will alles erfahren, was Sie über Gusto Hanssen wissen.«
Ihre Nasenflügel bebten, und ihre majestätischen Brüste hoben sich. Harry sah die großen, schwarzen Poren in ihrer Haut und musste unwillkürlich an die Pixel in einem Comic denken.
»Da ich eine der wenigen hier in dieser Stadt bin, die dafür sorgen, dass die Drogenabhängigen am Leben bleiben, bin ich auch eine der wenigen, die sich an Gusto Hanssen erinnert. Wir haben ihn verloren, und das ist sehr traurig. Diese Anrufe sind leicht zu erklären. Ich hatte seine Nummer in meinem Handy gespeichert, weil wir ihn mal zu einer Komiteesitzung eingeladen hatten. Sein Name ähnelt dem eines guten Freundes von mir, vermutlich habe ich mich mit meiner Kontaktliste vertan. Das kommt immer mal wieder vor.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Hören Sie, Harry Hole«, fauchte sie, mit Betonung auf Hole, und senkte ihr Gesicht noch etwas näher über das seine. »Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Sie kein Polizist mehr, sondern machen jetzt in Mode und Schuhen. Ich sehe also keinen Grund, warum ich mit Ihnen reden sollte.«
»Hm«, sagte Harry und lehnte sich nach hinten an den Tresen, »blöd nur, dass ich so ein ungeheures Bedürfnis habe, mit jemandem zu reden. Aber wenn das mit Ihnen nicht geht, muss ich wohl zu einem Journalisten gehen. Die sind ja immer wahnsinnig interessiert an allen möglichen Promi-Gerüchten.«
»Promis?«, sagte sie und setzte ein strahlendes Lächeln auf, das aber nicht Harry galt, sondern einem Mann im Anzug, der vorne beim Oberkellner stand und ihr zuwinkte. »Ich bin doch nur Senatssekretärin, Harry, ein oder zwei Fotos in der Zeitung machen einen noch nicht zum Promi. Sehen Sie doch, wie schnell Sie selbst in Vergessenheit geraten sind.«
»Ich denke, die Presse geht davon aus, dass Ihr Stern noch gar nicht aufgegangen ist, dass er das aber bald tun wird.«
»Ach, wirklich? Mag sein, aber selbst die schlimmsten Boulevardblätter wollen heutzutage Beweise, und die haben Sie nicht. Dass man sich mal verwählt …«
»… kommt vor. Was hingegen nicht vorkommt …« Harry holte tief Luft. Sie hatte recht, er hatte nichts. Und deshalb hatte er auf diesem schmalen Weg auch nichts verloren, »… ist Blut der Blutgruppe AB Rhesus negativ an zwei Orten desselben Mordfalls. So etwas ist kein Zufall. Diese Blutgruppe hat nur einer von zweihundert. Wissen Sie, wenn die Analyse des Bluts unter Gustos Nägeln diese Blutgruppe ergibt, und Sie, wie überall zu lesen ist, diese Blutgruppe haben, zählt ein alter Ermittler wie ich einfach eins und eins zusammen. Ich muss nur eine DNA -Analyse beantragen, und dann wissen wir zweifelsfrei, in wen Gusto vor dem Mord seine Fingernägel geschlagen hat. Hört sich das nicht nach einer recht interessanten Schlagzeile an, Skøyen?«
Die Senatssekretärin blinzelte unentwegt, als könnte sie so ihre Stimmbänder in Schwingung versetzen.
»Sagen Sie mal: Ist das da nicht dieser Kronprinz der Arbeiterpartei?«, fragte Harry und kniff die Augen zusammen. »Wie heißt der noch mal?«
»Wir können uns gerne unterhalten«, sagte Isabelle Skøyen. »Aber erst später, und Sie versprechen mir, dass Sie bis dahin die Klappe halten.«
»Wann und wo?«
»Geben Sie mir Ihre Handynummer, ich rufe Sie dann nach der Arbeit an.«
Draußen schien die Sonne noch immer unvermindert hysterisch auf den Fjord. Harry setzte sich die Sonnenbrille auf und zündete sich eine Zigarette an, um seinen erfolgreichen Bluff zu feiern. Er setzte sich auf die Kaimauer, genoss jeden Zug, kämpfte gegen die Sucht an, die noch immer da war, und fokussierte die übertrieben kostspieligen Spielzeuge, die die reichsten Kinder der Arbeiterklasse am Anleger vertäut hatten. Dann drückte er die Zigarette aus, spuckte in den Fjord und war bereit für den nächsten Namen auf seiner Liste.
Harry bestätigte der Pförtnerin des Radiumhospitals, dass er einen Termin hatte, und bekam ein Formular ausgehändigt, in dem er Namen und Telefonnummer eintrug, die Spalte für »Firma« aber leer ließ.
»Handelt es sich um einen privaten Besuch?«
Harry schüttelte den Kopf. Er kannte die Berufskrankheit guter Pförtner
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