Die Larve
alles, so dass auch er seinen rasenden Puls und den Drang, nach draußen zu laufen, nicht mehr verdrängen konnte.
Der Käfer, zjuk , schwebte unmittelbar vor seinem Gesicht in der Luft.
Kapitel 21
D as Gesicht war vollkommen entstellt. Harry hatte das Licht eingeschaltet und sah nach unten auf den Toten.
Das rechte Ohr war ans Parkett genagelt worden und im Gesicht klafften sechs schwarze, blutige Krater. Nach der Mordwaffe brauchte er nicht zu suchen, die schwebte in Augenhöhe direkt vor ihm. Am Ende eines Seils, das über einen Deckenbalken geworfen worden war, hing ein Ziegelstein, aus dem sechs blutige Nägel ragten.
Harry hockte sich neben den Toten und hob seinen Arm an. Der Mann war kalt, und die Rigor mortis war trotz der Wärme im Raum definitiv eingetreten. Auch die ersten Leichenflecken, die aus dem Zusammenwirken der Schwerkraft und des fehlenden Blutdruckes entstanden, waren zu sehen. Das Blut war an den tiefsten Stellen zusammengelaufen und hatte die Unterseite der Arme rötlich verfärbt. Harry tippte darauf, dass der Mann seit mindestens zwölf Stunden tot war. Das weiße, frisch gebügelte Hemd war aus dem Gürtel gerutscht, so dass ein Stück der Haut am Bauch zu sehen war. Es war noch keine Grünfärbung zu erkennen, die Bakterien hatten ihre Arbeit also noch nicht begonnen. Das große Fressen startete in der Regel erst nach achtundvierzig Stunden und breitete sich vom Bauch aus auf die übrigen Körperregionen aus.
Neben dem Hemd trug er einen lockeren Schlips, schwarze Anzughosen und frisch geputzte Schuhe. Als käme er direkt von einer Beerdigung oder einem Job mit Dresscode, dachte Harry.
Er nahm das Telefon und fragte sich, ob er die Kriminalwache oder gleich das Morddezernat anrufen sollte. Er entschied sich schließlich für die Nummer der Kriminalwache und sah sich im Raum um. Für einen Einbruch gab es keinerlei Anzeichen, und im Wohnzimmer waren auch keine Kampfspuren zu erkennen. Abgesehen vom Ziegelstein und der Leiche, gab es überhaupt keine Spuren. Harry war sich sicher, dass die Kriminaltechniker nichts finden würden, weder Fingerabdrücke noch Schuhabdrücke oder DNA -Spuren. Auch die taktischen Ermittler würden nicht weiterkommen, keiner der Nachbarn würde etwas gesehen haben, die Überwachungskameras an den Tankstellen in der Nähe würden keine Verdächtigen zeigen, und auch Schultz’ Telefonverbindungen würden keine Anhaltspunkte liefern. Nichts. Während Harry darauf wartete, dass jemand das Gespräch entgegennahm, ging er in die Küche. Aus alter Gewohnheit achtete er darauf, nicht auf etwas zu treten. Sein Blick fiel auf den Küchentisch, auf dem ein Teller mit einem halb gegessenen Wurstbrot stand. Über dem Stuhlrücken hing eine Anzugjacke, die zur Hose passte, die der Tote trug. Harry durchsuchte die Taschen und fand vierhundert Kronen, ein Klebeetikett, eine Zugfahrkarte und die ID -Karte der Fluggesellschaft. Tord Schultz. Das professionell lächelnde Gesicht auf dem Bild ähnelte den Resten des Gesichts im Wohnzimmer.
»Kriminalwache?«
»Ich habe hier einen Toten. Die Adresse ist …«
Harrys Blick fiel auf das Etikett.
»Ja?«
Es kam ihm seltsam bekannt vor.
»Hallo?«
Harry nahm den Zettel in die Hand. Ganz oben stand POLIZEIDISTRIKT OSLO in großen Buchstaben. Darunter TORD SCHULTZ und ein Datum. Der Mann hatte vor drei Tagen eine Polizeiwache oder das Präsidium besucht, und jetzt war er tot.
»Hallo?«
Harry legte auf.
Setzte sich.
Dachte nach.
Er brauchte anderthalb Stunden, um das Haus zu durchsuchen. Anschließend verwischte er all seine Fingerabdrücke und nahm die Plastiktüte ab, die er sich mit einem Weckring um den Kopf gebunden hatte, um keine Haare zu hinterlassen. Es war eine feste Regel, dass die Fingerabdrücke und DNA aller Mordermittler und Polizisten, die an einem Tatort zu tun hatten, registriert wurden. Ließ er irgendwelche Spuren zurück, würde die Polizei keine fünf Minuten brauchen, um herauszufinden, dass er am Tatort gewesen war. Das Ergebnis seiner Durchsuchung waren drei kleine Tütchen Kokain und vier Flaschen, in denen sich vermutlich geschmuggelter Schnaps befand. Ansonsten: nichts.
Er ging nach draußen, stieg in den Wagen und fuhr weg.
Oslo, Polizeidistrikt.
Verdammt! Verdammte Scheiße!
Nachdem Harry im Zentrum angekommen war und das Auto geparkt hatte, blieb er sitzen und starrte durch die Windschutzscheibe. Dann wählte er Beates Nummer.
»Hallo, Harry.«
»Zwei Sachen. Ich möchte dich um einen
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