Die Larve
links gehen soll«, sagte Harry. »Und du?«
»Ich gehe jetzt gleich ins Bett. Bist du nüchtern?«
»Was?«
»Du hast mich verstanden. Und ich verstehe dich. Ich spüre es, wenn du gestresst bist, und das da bei dir hört sich wirklich wie eine Bar an.«
Harry nahm das Camel-Päckchen aus der Tasche. Schnippte sich eine Zigarette heraus, spürte, wie seine Finger zitterten, und sagte: »Schön, dass du angerufen hast, Rakel.«
»Harry?«
Er zündete die Zigarette an. »Ja?«
»Hans Christian hat irgendwie in die Wege leiten können, dass Oleg an einem unbekannten Ort in Untersuchungshaft sitzt. Irgendwo im Østland, wo genau, erfährt aber niemand.«
»Nicht schlecht.«
»Er ist ein guter Mann, Harry.«
»Das bezweifle ich nicht.«
»Harry?«
»Ich bin hier.«
»Wenn wir Beweise vortäuschen und platzieren würden, oder ich die Schuld für den Mord auf mich nähme … würdest du mir dann helfen?«
Harry inhalierte. »Nein.«
»Warum nicht?«
Hinter Harry fiel eine Tür ins Schloss. Er hörte aber keine Schritte, die sich entfernten.
»Ich rufe dich vom Hotel aus an, okay?«
»Okay.«
Harry beendete das Gespräch und trat, ohne sich umzudrehen, auf die Straße.
Sergej sah dem Mann nach, der über die Straße lief und im Leons verschwand.
Er war so nah dran gewesen. So nah. Erst drinnen in der Bar, und jetzt hier draußen auf der Straße.
Sergejs Finger umklammerten noch immer den Hirschhornschaft des Messers in seiner Jackentasche. Er hatte die Klinge bereits ausgelöst, sie hatte sich in das Futter gebohrt. Zweimal hatte er vortreten wollen, mit der linken Hand die Haare packen, den Kopf nach hinten ziehen, zustechen und die Klinge dann in einem Bogen über den Hals ziehen. Der Polizist war zwar größer, als er gedacht hatte, aber das sollte eigentlich kein Problem sein.
Nichts würde ein Problem sein. Denn als sein Puls zu sinken begann, spürte er wieder Ruhe über sich kommen. Die Ruhe, die seine Angst verdrängt hatte. Jetzt freute er sich wieder auf die Vollendung, darauf, eins zu werden mit der Geschichte, die bereits erzählt worden war.
Dies war der Ort, der Hinterhalt, von dem Andrej gesprochen hatte. Denn es war Sergej nicht entgangen, mit welchem Blick der Polizist die Flasche fixiert hatte. Diesen Blick hatte auch sein Vater gehabt, wenn er aus dem Gefängnis gekommen war. Sergej war das Krokodil im Billabong, und dieses Krokodil wusste, dass der Mann hierher zurückkommen würde, um etwas zu trinken. Es musste nur warten.
Harry legte sich auf das Bett im Zimmer 301, blies den Rauch zur Decke und lauschte ihrer Stimme im Telefon.
»Ich weiß, dass du üblere Sachen gemacht hast, als einfach falsche Beweise zu platzieren«, sagte sie. »Warum also nicht? Warum nicht für eine Person, die du liebst?«
»Du trinkst Weißwein«, sagte er.
»Woher weißt du, dass das kein Rotwein ist?«
»Ich kann das hören.«
»Okay, aber erklär mir, warum du mir nicht helfen willst.«
»Muss ich das?«
»Ja, Harry.«
Harry drückte die Zigarette in der leeren Kaffeetasse aus, die auf dem Nachtschränkchen stand. »Ich, ein Gesetzesbrecher und abgehalfterter Polizist, bin der Meinung, dass das Gesetz wichtig ist. Hört sich das krank an?«
»Red weiter.«
»Die Gesetze sind die Zäune, die wir am Rand des Abgrunds aufgestellt haben. Jedes Mal, wenn jemand ein Gesetz verletzt, wird dieser Zaun ein bisschen mehr beschädigt. Deshalb müssen wir ihn reparieren. Der Schuldige muss seine Strafe bekommen.«
»Nein, jemand muss eine Strafe bekommen. Jemand muss die Zeche zahlen, damit die Gesellschaft erkennt, dass Mord keine Lösung ist. Dein Zaun kann durch jeden x-beliebigen Sündenbock repariert werden.«
»Du höhlst das Gesetz aus, damit es dir in den Kram passt. Du bist Juristin, du solltest das besser wissen.«
»Ich bin Mutter. Ich arbeite als Juristin. Und was ist mit dir, Harry? Bist du Polizist? Ist das deine Bestimmung? Ein Roboter, ein Sklave des Ameisenhaufens, jemand, der den Gedanken anderer hörig ist? Bist du noch da?«
»Hm.«
»Jetzt sag schon was!«
»Nun. Was meinst du, warum ich nach Oslo zurückgekommen bin?«
Pause.
»Harry?«
»Ja?«
»Entschuldigung.«
»Nicht weinen.«
»Ich weiß, Entschuldigung.«
»Du musst dich nicht entschuldigen.«
»Gute Nacht, Harry. Ich …«
»Gute Nacht.«
Harry wachte auf. Ein Geräusch hatte das Trommeln seiner über den Flur rennenden Beine und das Dröhnen der Lawine übertönt. Er sah auf die Uhr. 01.34 Uhr. Die
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