Die Launen des Teufels
Frühstück an diesem Morgen über die dunklen Ringe unter seinen Augen erschrocken. Auch bereitete ihr der trockene Husten, der ihn seit mehreren Tagen plagte, Furcht, die sie mit niemandem teilen konnte. Denn sie wagte es nicht einmal, sich Vren anzuvertrauen. Zu groß war die Klatschsucht der Freundin.
Ohne darauf zu achten, wo sie hintrat, zwang sie sich dazu, ihre Sorgen in Zaum zu halten und passierte erneut die Schule der pueri oblati, wo der Novizenmeister dazu übergegangen war, die zwischen sechs und zehn Jahren zählenden Jungen mit weiteren lateinischen Deklinationen und Bibelversen zu quälen.
Die kahlen, abgeernteten Klostergärten wirkten im schwachen Licht des Novembertages trostlos und tot, und obschon es an diesem Tag noch nicht geregnet hatte, verkündeten die am Horizont aufziehenden, gelblichgrauen Wolken, dass der erste Schnee nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Zielstrebig steuerte sie auf das Klostertor zu, in dessen Durchgang just in dem Augenblick, in dem sie es durchschreiten wollte, die dunkle Silhouette eines Mönches auftauchte. Da sie aufgrund des Mauerschattens und der tief in die Stirn gezogenen Kapuze des Bruders kein Gesicht erkennen konnte, grüßte sie ihn knapp und wollte gerade weitereilen, als die Hand des Mannes aus seinem Ärmel hervorschoss und hart ihren Oberarm umklammerte.
»Wen haben wir denn da?«, zischte er, und beim Klang der belegt wirkenden Tenorstimme glitt Anabel vor Schreck ihre Last aus den Händen. Verzweifelt zuckte ihr Blick von den durch den Schmutz kullernden Laiben zu der hochgewachsenen Gestalt, die sie unter Einsatz der gesamten Körpermasse in Richtung Klosterhof zurückdrängte. Als sie gerade zu einer gestammelten Bitte ansetzen wollte, erdröhnte hinter ihr der Bass des Ordensvaters.
»Der Herr brandmarkt die Sünder durch Ungeschicklichkeit«, urteilte dieser missfällig – wie immer die Heilige Schrift nach seinem Gutdünken auslegend – bevor er ungeduldig hinzufügte: »Na los, tummel dich und heb sie auf!«
Ein leichter Schlag auf den Rücken der Gescholtenen begleitete diese Aufforderung, doch noch niemals zuvor war Anabel so froh gewesen über das Auftauchen des strengen Henricus. »Ah, Franciscus, ich wollte Euch nicht unterbrechen. Sicherlich habt Ihr diesem unnützen Ding bereits eine Standpauke gehalten.« Ein nicht zu deutender Unterton hatte sich in die Stimme des stellvertretenden Ordensoberhauptes geschlichen. Doch Anabel, die auf die Knie gesunken war, um die verstreuten Brote aufzulesen, war viel zu sehr damit beschäftigt, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen, als dass sie diese Feinheit bewusst wahrgenommen hätte. Dem Drang widerstehend, sich die Stelle zu reiben, an der Franciscus’ Finger sicherlich eine hässliche Reihe blauer Flecken hinterlassen würde, robbte sie über den in diesem Bereich trockenen Boden und säuberte die Roggentaler mit dem Ärmel ihrer Glocke.
»Ja«, erwiderte der Abt zögernd, und einzig ein leichtes Tremolo verriet, dass er nicht so gefasst war, wie er vorgab zu sein. »Ich hatte in der Tat vor, ihr eine Lehre zu erteilen.« Brennend bohrte sich der Blick seiner hellbraunen Augen in Anabels gebeugten Rücken. »Aber dazu ist später noch Zeit.« Mit dieser Drohung wandte er sich ab und eilte – Henricus im Schlepptau – auf den inneren Bereich der Klosteranlage zu, wo er kurze Zeit später von den Dormitorien verschluckt wurde.
Keuchend stieß Anabel den unbewusst angehaltenen Atem aus der Lunge und richtete sich schwindelig und zitternd auf. Nachdem sich der Vorfall im Hospital nicht mehr wiederholt und sie den Abt in der vergangenen Zeit lediglich von Weitem zu Gesicht bekommen hatte, war der Zwischenfall beinahe soweit in Vergessenheit geraten, dass sie sich manches Mal gefragt hatte, ob sie ihn nur geträumt hatte. Doch die soeben von Henricus unfreiwillig unterbrochene Begegnung ließ die verdrängten Nöte mit solcher Macht wieder aufflammen, dass Anabel sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust griff.
Als sie auf den vor der Abtei liegenden Platz trat, gaben ihre Knie nach, und hätte sie sich nicht im letzten Moment mit dem Rücken an die Mauer zu ihrer Linken gelehnt, wäre sie mit dem Allerwertesten auf dem Kopfsteinpflaster gelandet. Zu lange hatte sie sich einzureden versucht, dass die unsittlichen Annäherungsversuche entweder ihrer überreizten Fantasie entsprungen waren oder auf der Tatsache beruhten, dass Franciscus nicht Herr seiner Sinne gewesen
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