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Die Launen des Teufels

Die Launen des Teufels

Titel: Die Launen des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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Clemens, dessen Name sein Verhalten Lügen strafte, auf den bereits weinenden Jungen einhieb, wandte Anabel den Kopf ab und beeilte sich, die offen stehende Tür der Schule hinter sich zu lassen, um ihren Auftrag zu erledigen und den Camerarius um einen weiteren Korb Brot für die Kranken und Hungrigen zu bitten.
    Wie jedes Jahr schwoll die Zahl der Bettler und um Almosen Flehenden an, je näher der Winter rückte, da die hohen Abgaben und die gnadenlose Konkurrenz manch armen Handwerksmeister, Tagelöhner oder Hilfsarbeiter in die Armut trieben. Anders als die aus Hundeschindern, Totengräbern, Schweinehirten, Prostituierten und Spielleuten bestehende Randgruppe der Stadt gehörten diese verarmten Bürger zwar der Unterschicht an, genossen jedoch als Beiwohner der freien Reichsstadt Ulm deren Schutz, solange sie die verminderten Steuern entrichten konnten. Blieben die geforderten Zahlungen jedoch aus, führte dies unweigerlich zum Verlust des eingeschränkten Bürgerrechtes. Was zur Folge hatte, dass jedes Jahr die Zahl der Rechtlosen zunahm. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, verteilten die Franziskaner und Beginen an bestimmten Tagen des Monats Brot, Stockfisch und gemeinen Wein, die sich die Hungernden vor den Toren der Abtei abholen konnten. Dort köchelte unter dem Schutz eines am Fuß des Löwentores aufgeschlagenen Zeltes auch ein einfacher Eintopf aus Rüben, Kohl, Lauch und Pferdebohnen, der dank der Spende eines reichen Patriziers mit Schlachtabfällen verfeinert worden war. Seit dem frühen Morgen stopften die Beginen die hungrigen Mäuler der Armen, die sich trotz der Not, die sie litten, erstaunlich gesittet aufführten.
    Das Geräusch der niedersausenden Rute ignorierend, steuerte Anabel energisch auf die Klosterküche zu, die sie durch den Hintereingang betrat. Wie immer herrschte in dem riesigen Raum emsiges Treiben.
    »Bruder Antonius«, begrüßte Anabel den soeben aus der Speisekammer auftauchenden Camerarius ehrerbietig. Doch bevor sie ihr Anliegen vorbringen konnte, wies dieser mit vollem Mund kauend auf einen flachen Weidenkorb voller Hafer- und Roggenbrottaler, deren schrumpelige Kruste verriet, dass sie bereits mehrere Tage alt waren.
    Ein Stirnrunzeln unterdrückend beobachtete Anabel, wie der Camerarius mit vor Entzücken geschürzten Lippen ein Stückchen Honigkuchen in den bereits überquellenden Mund stopfte, um sich im gleichen Atemzug mit Adleraugen über die auf einem Holzbrett abgelegten, mit dem Fleischstempel der Obrigkeit versehenen Schweine- und Ochsenteile zu beugen und diese zu begutachten. Schon früher hatte sie sich über die Art und Weise gewundert, wie der selbst auf Spenden angewiesene Bettelorden seiner von Gott vorgeschriebenen Aufgabe, sich um diejenigen zu kümmern, die sich selbst nicht helfen konnten, nachkam. Denn anstatt tatsächlich das Brot mit den Armen und Hungernden zu brechen, fielen für diese lediglich die Abfälle ab, wohingegen sich die Angehörigen des Ordens die Bäuche mit allerlei feinem Naschwerk vollschlugen.
    Ein Blick auf das in einer Ecke brennende, der Zeitmessung dienende Heiligenlämpchen ließ sie die rebellischen Überlegungen vergessen, den Korb auf die Hüfte hieven und sich mit einem kurzen Gruß verabschieden. Mit der freien Hand zog sie die zu große Kapuze über den Kopf und machte sich gedankenverloren zu dem Doppeltor auf, das zwischen Hospital und Abthaus auf den Platz vor der Anlage führte.
    Beinahe drei Wochen waren seit dem Schützenfest vergangen, und obschon es ihr und Bertram gelungen war, einige Momente unter vier Augen zu stehlen, bekamen sie sich kaum zu Gesicht. Wie immer löste die Erinnerung an seine Berührung ein Prickeln der Leidenschaft in ihr aus, das sie mit einem schmerzhaften Biss auf die Unterlippe unterband, da ihre Gedanken in eine andere Richtung drängten. Zwar hatte sich ihre Sorge, die Beginenmeisterin um mehr Arbeit bitten zu müssen, von selbst zerschlagen, da aufgrund der zunehmenden Unterernährung immer mehr Menschen an fiebrigen Erkrankungen litten; ganz zu schweigen von der rätselhaften Epidemie, welche die Stadt seit Wochen in Atem hielt. Doch waren die zusätzlichen drei Silberpfennige, die sie jede Woche vor ihrem Vater verheimlichen konnte, ein schwacher Trost für die Entbehrungen und Ängste, die sie immer häufiger quälten. Was, wenn Conrad seinen Lehrling bis zum Frühjahr zu Tode schindete? Wenngleich Bertram sich allmählich an die harte Arbeit zu gewöhnen schien, war sie beim

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