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Die Launen des Teufels

Die Launen des Teufels

Titel: Die Launen des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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erhob sie sich, griff nach dem Essigschwämmchen und kniete sich neben den nächsten Kranken, dessen rasselnder Atem darauf hindeutete, dass er die Nacht vermutlich nicht überleben würde. Ein dünner Blutfaden zog sich bereits von der Nase zu seinem erschlafften Mundwinkel, doch auch wenn er nur noch kurze Zeit zu leben hatte, würde Anabel ihm sein Leid so weit als möglich erleichtern.
    Behutsam fuhr sie mit dem Schwamm über das von Bartstoppeln bläulich gefärbte Kinn, dessen kühner Schwung ohne Vorwarnung Bertrams Bild in ihr aufsteigen ließ. Mit zitternder Hand hielt sie einen Augenblick inne, fuhr jedoch nach einem kurzen Blinzeln mit ihrer Arbeit fort, während sie erfolglos versuchte, die Erinnerung an die Auseinandersetzung mit ihm zu verdrängen. Warum hatte er nur auf sie gewartet?, fragte sie sich mit schwerem Herzen, während ihre Hände die oft geübten Bewegungen ausführten. Und warum hatte er es nicht dabei bewenden lassen, sondern hatte ein weiteres halbes Dutzend Mal versucht, in sie zu dringen, sodass ihr nichts anderes übrig geblieben war, als die Flucht zu ergreifen? Denn ansonsten hätte sie der Versuchung nachgegeben, sich an seine breite Brust zu lehnen und ihm ihr Herz auszuschütten. Verstohlen wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. Denn die Vorstellung, wie sich der Ausdruck in seinen dunklen Augen von Liebe zu Verachtung gewandelt hätte, wollte ihr inmitten all des sie umgebenden Leids die Fassung rauben. Und nicht nur hatte er allen Grund dazu, sie zu verachten, da ihre Schwäche und Sündhaftigkeit dazu geführt hatten, dass ein anderer ihre Jungfräulichkeit für sich beansprucht hatte; auch hatte sie ihm aufgrund ihrer Willensschwäche die eine Information vorenthalten, die sie ihm schuldete: Nämlich dass der Bettler, der sie bei der Suppenausgabe so verunsichert hatte, sein Vater sein musste! Zu groß war die Ähnlichkeit, zu klar die Züge, die beide Männer gemeinsam hatten, als dass es sich um einen Zufall handeln konnte!
    Ein Zittern ließ ihre Hand abrutschen und den Essigschwamm in das Kissen neben dem Kopf des Kranken drücken. Irgendwann würde sie ihre Feigheit überwinden und es ihm mitteilen müssen, da sie sich ansonsten noch mehr verachten würde, als sie es ohnehin schon tat.
    Mit bleiernen Gliedern erhob sie sich aus der Hocke und drang schlafwandlerisch weiter ins Infirmarium vor, wo Schwester Marthe sich soeben mit einem Niesen vom Lager eines Verstorbenen erhob, um zwei Novizen damit zu beauftragen, seine sterbliche Hülle zu den anderen Toten zu legen.
    »Geh nach Hause, Anabel«, sagte sie kopfschüttelnd, als ihr Blick auf das gebeugt gehende Mädchen fiel. »Du bist seit Tagesanbruch hier. Es hilft nichts, wenn du vor Erschöpfung umfällst.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, griff sie sich mit einem erstaunten Ausruf an die Stirn und lehnte sich an einen der dicken Balken, den sie haltsuchend umklammerte. Bevor Anabel bei ihr war, presste sie kurz die Fingerkuppen zwischen die Augen und schüttelte selbsttadelnd den Kopf. »Siehst du? Sonst ergeht es dir ebenso. Geh nach Hause.«
    Da sie trotz aller Furcht und allen Unwillens, das Haus ihres Vaters zu betreten, vor Schwäche kaum mehr stehen konnte, nickte Anabel dankbar, räumte ihre Utensilien auf und trat nach einigen Minuten in die kristallklare Nacht hinaus. Schwer hing der Rauch der unzähligen Feuer über den Dächern der Abtei, die im Licht des Sichelmondes glänzten. Aus den Wipfeln der die Stadt umgebenden Bäume drang der Schrei einer Eule an ihr Ohr, doch ansonsten lag die Stadt erdrückend still und leblos vor ihr, als sie sich über den Münsterplatz auf den Heimweg machte. Die riesige Baugrube war inzwischen mit einer breiten Zeltleinwand abgedeckt worden, um zu verhindern, dass sich noch mehr Wasser auf ihrem Boden sammelte, und mit einem traurigen Seitenblick dachte Anabel an den Tag zurück, an dem sie staunend am Rand des Abgrunds verharrt hatte. Wie viel Zeit inzwischen vergangen zu sein schien!, fuhr es ihr durch den Kopf, obwohl es noch nicht einmal sieben Wochen her war. Ein freudloser Laut kam über ihre Lippen, als sie an die Begeisterung zurückdachte, mit der sie die Arbeit der Männer begafft hatte. Ein Bauwerk von solch gewaltigen Ausmaßen, dass Gott die Bürger und Einwohner Ulms für immer vor allen Unbilden bewahren würde! Wie einfältig sie gewesen war!
    Ein humpelnder Krüppel, der sich aus einer der Gassen in ihre Richtung schleppte, ließ sie

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