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Die Launen des Teufels

Die Launen des Teufels

Titel: Die Launen des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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schneller laufen und ohne Rücksicht auf vereiste Stellen um Häuserecken biegen und sich unter Vordächern entlang tasten. Als sie über eine achtlos auf dem Kopfsteinpflaster abgestellte Bahre stolperte, keuchte sie entsetzt auf, und als der in einen zerlumpten Umhang gehüllte Tote auf den gefrorenen Boden rollte, ergriff sie mit rasendem Herzen die Flucht. Das Blut toste in ihren Ohren, als sie nach ungezählten Minuten kopfloser Hast schließlich am Haus ihres Vaters anlangte, das sie ohne die üblichen Vorsichtsmaßnahmen betrat, um den Riegel hinter sich in die Halterung fallen zu lassen.
    Mit sich heftig hebendem Brustkorb lauschte sie einige Zeit in die Dunkelheit, bevor sie durch den Eingangsbereich in den Hof schlich, um von dort die Tür zur Küche aufzustoßen, wo sie Gertrud vorfand, die zusammengekauert vor der Feuerstelle kniete. Die blau-grüne Schwellung, die sich von ihrem linken Ohr bis zu ihrer Nase zog, sprach eine mehr als deutliche Sprache, doch als sie Anabels Gegenwart gewahr wurde, sprang die Gemahlin des Glockengießers schuldbewusst auf und nestelte an der Näharbeit, die sie zu Boden hatte fallen lassen.
    »Gertrud«, grüßte Anabel leise, um ihre nebenan schlafenden Geschwister nicht zu wecken. Als der Blick ihrer blauen Augen an der Verletzung haften blieb, senkte Gertrud den Kopf und brach in leises Weinen aus. Mit wenigen Schritten war Anabel bei ihr und schloss sie in die Arme. Während ihr eigenes Leid in den Hintergrund trat, stieg eine solch heftige Wut auf ihren Vater in ihr auf, dass sie diesen am liebsten lauthals verflucht hätte. »Es wird alles gut«, murmelte sie in das nach Brot duftende Haar der nur wenige Jahre älteren Gertrud, während sie diese behutsam auf die Bank neben dem Kamin drückte. Anstatt abzuebben, verstärkte sich jedoch das verzweifelte Weinen der verhärmten jungen Frau, bis diese mit einem Wimmern den Blick zu Anabel hob und mühsam hervorstieß: »Ich weiß, was er getan hat.« Sie schluchzte und presste die Handballen in die von dunklen Ringen umrahmten Augenhöhlen. »Er hat damit geprahlt«, setzte sie nach einem mühsamen Schlucken hinzu. »Und ich habe ihn zur Hölle gewünscht!« Erneut verlor sie die Fassung und weinte hemmungslos, bis sich die Gewalt ihrer Trauer schließlich erschöpft hatte, und sie Anabel mit leerem Blick anstarrte.
    »Dafür wird er im Fegefeuer brennen«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor und ergriff Anabels kalte Hände. »Wenn das Jüngste Gericht über uns hereinbricht, wird er der erste sein, dessen Seele für immer verloren ist.«
    Die Hoffnung, die bei diesen Worten in ihrer Stimme mitschwang, ließ Anabel müde einen Mundwinkel in die Höhe ziehen. Doch als die Erinnerungen, die durch die Kranken verdrängt worden waren, ohne Vorwarnung und mit aller Gewalt wieder in ihr aufstiegen, ließ auch sie sich lautlos auf einen Schemel fallen. Als geschehe es in diesem Augenblick, in der Küche ihres Vaters, vermeinte sie, die ekelhafte Berührung des Abtes, die Brutalität seiner tastenden Hände, das schleimige Eindringen seiner Zunge in ihren Mund und seiner Erregung in ihren Körper zu spüren. Mit einem Schaudern zog sie schützend die Schultern höher und versuchte, die Bilder wieder in die Kammer ihres Bewusstseins zu verbannen, in der sie diese bereits während des erzwungenen Aktes einschloss. Gertruds besorgte Fragen ignorierend, zwang sie sich dazu, wie in den Momenten, in denen Franciscus schwitzend und keuchend seinen tierischen Trieben nachkam, einen weit entfernten Ort in ihrer Fantasie aufzusuchen, dessen Schönheit und Reinheit es ihr ermöglichte, die Demütigungen zu überstehen.
    Ohne es zu bemerken, hatte auch sie begonnen, trocken zu schluchzen, und erst als Gertrud ihr behutsam die Tränen von den Wangen wischte, kam sie wieder zu sich und ergriff die Handgelenke ihrer Stiefmutter. »Verzeih mir«, flüsterte sie und presste die Finger so heftig um Gertruds Unterarm, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ich hatte kein Recht, dir Vorwürfe zu machen«, setzte sie zerknirscht hinzu. »Wenn ich gewusst hätte, was er dir jede Nacht antut …«
    Ihre Stimme erstarb, als Gertrud die Augen schloss und leicht den Kopf hin- und herwiegte. »Es ist das unabänderliche Schicksal einer Ehefrau, ihrem Gatten zu Gehorsam zu sein«, erwiderte diese schließlich ergeben, doch bevor Anabel aufbrausen konnte, setzte sie hastig hinzu: »Aber es gibt keine Rechtfertigung für das, wozu er dich verdammt hat.«

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