Die Launen des Teufels
Augenblicke innehalten und erneut das schöne Gesicht der Gräfin betrachten. Wollte Gott mit dieser Frucht der Sünde ihren Willen zum Gehorsam prüfen?, fragte sie sich verzweifelt. Würde sie diesem Kind der Schande die Liebe einer Mutter zukommen lassen können, oder würde sie sich von ihm abwenden und damit ihre Seele noch mehr beschmutzen? Sie seufzte und nahm ihre Arbeit wieder auf. Und würde Bertram beginnen, sie zu hassen, wenn ihr Körper ihn mit jedem Tag, der verstrich, daran erinnerte, dass ein anderer sie vor ihm besessen hatte? Bevor sie sich weiter quälen konnte, riss sie das plötzliche Einsetzen des Kirchengeläutes aus ihrem Brüten und ließ sie verdutzt den Kopf wenden.
Warum um alles in der Welt ertönten zu dieser ungewöhnlichen Stunde die Glocken der Abteikirche? Laut und dröhnend fing sich der tiefe Klang in den Räumen des Hospitals, und innerhalb weniger Minuten sammelten sich Beginen, Novizen und Helferinnen im Eingangsbereich, um den Grund der unüblichen Abweichung vom Tagesgeschehen in Erfahrung zu bringen. Kurz nachdem der erste Ton den frühen Nachmittag durchschnitten hatte, versperrte Anabel eine Wand aus braun gewandeten Rücken den Blick auf die Tür, und wenngleich sie die in ihr aufsteigende Neugier unterdrücken wollte, wurde auch sie von dem Geschehen wie magisch angezogen. Folglich trocknete sie sich die Hände, stellte die Schale am Fußende des Bettes ab und schloss sich der gaffenden Versammlung an, aus deren Reihen bereits die wildesten Vermutungen kamen.
»Der Bischof ist hier«, raunte ein vollkommen kahler Mönch, dem jedoch sofort ein anderer widersprach: »Nein, es muss etwas Furchtbares geschehen sein!«
»Dort kommt Paulus«, verkündete eine hellblonde Begine. »Er weiß sicher mehr.«
»Was soll der schon wissen?«, zischte eine Stimme dicht hinter Anabel, doch als sie sich umwandte, ließ keines der starren Gesichter erkennen, bei welchem der Novizen es sich um den Sprecher handelte.
Kurz darauf entstand in den vorderen Reihen ein Aufruhr, doch als kurz darauf die weinerliche Stimme des Tonsors den Raum erfüllte, verstummten selbst die Aufgebrachtesten.
»Der Abt ist tot!«, keifte der Mönch mit hochrotem Kopf. »Franciscus ist vor wenigen Minuten gestorben!«
Obschon Anabel sich auf die Zehenspitzen reckte, konnte sie lediglich den Schopf des hochgewachsenen Paulus erkennen, der sich in diesem Moment ebenfalls durch den Eingang schob, um die Worte des Tonsors zu bestätigen. »Es ist wahr«, verkündete er salbungsvoll. »Unser Hochwürdigster Vater ist von seinen Qualen erlöst.«
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Immer noch aufgewühlt und durcheinander von der unverhofften Nachricht vom Tod ihres Peinigers, begab sich Anabel nach Anbruch der fünften Stunde erneut in die Apothekergasse, um Elzbete ein weiteres Mal das hungrige Maul des Säuglings stopfen zu lassen. Nachdem sie der Gemahlin des immer noch emsig destillierenden Apothekers den vereinbarten Preis in die gierig ausgestreckte Handfläche gezählt hatte, drückte sie den Knaben fest an sich und huschte zurück zu der hell erleuchteten Abtei, aus deren Kirche der eintönige Betgesang der Heiligen Brüder ins Freie drang. Vermutlich flehten sie für die Seele ihres verstorbenen Vorstehers, dachte Anabel bitter und verzog das Gesicht zu einer Grimasse der Verachtung. Wie vielen Vorgängerinnen hatte er wohl ebenso wie ihr die Unschuld geraubt?, fragte sie sich, blieb jedoch bei dem Anblick, der sich ihr bot, sobald sie das Tor durchschritten hatte, wie angewurzelt stehen.
Vom Abthaus her schlängelte sich ein Trauerzug in Richtung Kirchenpforte, um den von vier Mönchen getragenen Leichnam des Dahingeschiedenen vor dem Altar aufzubahren. Begleitet von Fackelträgern, schob sich die Abordnung singend und betend auf das schmucklose Hauptschiff zu, an dessen Ende sich der aus Stein gehauene Altar befand. Durch die weit offen stehende Doppelpforte erkannte Anabel die prunkvollen Altarleuchter und Kruzifixe und die sorgfältig zusammengelegten liturgischen Gewänder. Der goldene Abtsstab, den Franciscus bei den Hochfesten stets vor sich hergetragen hatte, ruhte auf einem roten Kissen vor dem Altar, wo er von dem dort wartenden Henricus halb verdeckt wurde. Dieser verfolgte mit unbewegter Miene, wie die Träger den Leichnam den von stehenden Mönchen gebildeten Gang entlang trugen, bevor sie ihn zu Füßen des Altars absetzten und sich bekreuzigten. Nachdem sie vor dem Kreuz das Knie gebeugt hatten,
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