Die Launen des Teufels
reihten sie sich in die Betenden ein, um kurz darauf in den Lobgesang einzustimmen, der sich vom hinteren Teil der Kirche her erhob. Bevor die Pforte geschlossen wurde, sah Anabel, wie ein beinahe diabolischer Ausdruck das Gesicht des stellvertretenden Ordensvorstehers entstellte, doch als die Tür donnernd ins Schloss fiel, hatten sich dessen Züge bereits wieder geklärt.
»Vergib mir meine sündhaften Gedanken, Herr«, flüsterte Anabel, in deren Innerem sich ein befremdliches Hochgefühl ausbreiten wollte. »Und sei seiner Seele gnädig«, setzte sie nach einigem Zögern zähneknirschend hinzu.
Nach einem letzten Blick auf die Fenster der Kirche schob sie das Kind in ihrem Arm zurecht und machte sich auf den Weg zurück ins Infirmarium. Sie hatte den zufriedenen Knaben gerade wieder in seine Krippe gebettet, als sie ein dumpfes Geräusch in ihrem Rücken herumfahren ließ. Sie sah gerade noch, wie Guta Staiger an der Schwelle der Kräuterküche wie eine Gliederpuppe in sich zusammensackte und regungslos liegen blieb, bevor sich ein halbes Dutzend Beginen um sie scharte.
»Lasst mich sehen«, durchschnitt Schwester Adelheids tiefe Stimme das aufgeregte Geplapper, und als sie sich wenig zimperlich zu der Meisterin durchgekämpft hatte, krempelte sie ohne viel Umschweife den Kragen des Ärmelrockes nach unten, um die Seite ihres Halses zu befühlen. Kaum hatten ihre Finger gefunden, was sie gesucht hatten, zog sie scharf die Luft durch die Zähne und fuhr in den Mund der ohnmächtigen Meisterin, um deren geschwollene Zunge zu untersuchen. »Heiliger Rochus, bewahre uns.«
Die Furcht, die Anabel bei der Erkenntnis, dass selbst die Oberin nicht vor der Seuche gefeit war, in die Glieder fuhr, ließ sie zurücktaumeln. Seit dem Ausbruch der furchtbaren Krankheit hatte sie sich – nachdem sich der anfängliche Todeswunsch in kalte Angst verwandelt hatte – mit der Hoffnung über Wasser gehalten, dass Gott seine schützende Hand über diejenigen hielt, welche trotz aller Unbilden den Kranken die Qualen erleichterten. Zwar hatte bereits mehr als ein Fünftel der Beginen den Tod gefunden, doch war dieser Anteil weitaus geringer als bei der gewöhnlichen Bevölkerung, von der Gerüchten zufolge bereits nahezu ein Drittel dahingerafft worden war. Doch jetzt war die Pest auf die selbstloseste aller Schwestern übergesprungen! Sie zitterte. Wie sollte man sich nur vor etwas schützen, das willkürlich arm und reich, sündig oder rein und frei oder leibeigen niederwarf, als kenne es keinen Unterschied? Nur mit Mühe verhinderte sie das Aufeinanderschlagen ihrer Zähne.
»Gott wird sie gesund machen«, hörte sie eine der älteren Schwestern mit einem Schluchzen hervorstoßen, bevor sie in Richtung Ausgang schlich, um wie benommen aus dem Lazarett zu fliehen und sich blindlings auf den Heimweg zu machen.
Dort angekommen, ließ sie der Geruch des Todes in die Küche stürmen, wo soeben Göswin und der zerschundene Bertram die kleine Ida auf einer hölzernen Bahre aus der Schlafkammer trugen. Der winzige Körper des fünfjährigen Mädchens wirkte auf dem langen Holzbrett erbärmlich, und als die beiden Männer ihre Schwester an ihr vorbeitrugen, brach Anabel in haltloses Schluchzen aus. Das schneeweiße Gesichtchen schien selbst in der Starre schmerzverzerrt, und das Tuch, mit dem Gertrud ihre Tochter umwickelt hatte, war an mehreren Stellen mit schwarzem Blut getränkt.
»Der Herr hat sie ins Himmelreich gerufen«, stieß Gertrud tonlos hervor, als sie hinter den beiden die Kammer verließ. »Ihre Seelen sind frei.« Mit einem leisen, summenden Laut schlang sie die Arme um Anabel und wiegte diese hin und her, bis das Stampfen schwerer Stiefel die Rückkehr der Männer verkündete. Immer noch weinend löste sich Anabel aus der krampfhaften Umarmung ihrer Stiefmutter, deren flachsblondes Haar aufgelöst um ihr abgemagertes Gesicht hing. In ihren Augen glomm eine fanatische Ergebenheit, die Anabel mit einem Gefühl der Leere erfüllte, das sich vertiefte, als Bertram und Göswin mit dem Leichnam des dreijährigen Johann zurückkehrten. Als schließlich auch Uli mit seinen Geschwistern vor der Tür aufgebahrt war, warf Gertrud einen der wollenen Mäntel um die Schultern, um bei ihren Kindern Totenwache zu halten, bis der Karren des Totengräbers sie am nächsten Morgen auflesen und zum Friedhof bringen würde. Da Anabel wusste, dass es vergeblich sein würde, sie davon abbringen zu wollen, ließ sie sich erschöpft auf die
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