Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Launen des Todes

Die Launen des Todes

Titel: Die Launen des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
Vom Netzwerk:
wie die anderen. Wie sich dieses Anderssein jedoch manifestiert, hat sich mir immer entzogen. Basiert es auf einem Zuviel oder einem Zuwenig? Habe ich etwas, was anderen fehlt, oder fehlt mir etwas, was andere haben?
    Mit anderen Worten, bin ich unter den Sterblichen ein Gott oder nur ein Wolf unter Schafen?
    Die Versuchung, ihr alles offen auf den Tisch zu legen, um dann zu sehen, was sie mithilfe ihres fachkundigen Verstandes mit diesem faszinierenden Durcheinander anstellte, war groß. Das Risiko allerdings war noch größer. Angenommen, sie käme zu dem Schluss, dass ich ein unheilbarer Soziopath sei?usatz
    Bedauerlicherweise musste ich mir also die Freuden vollkommener analytischer Ehrlichkeit für später aufheben und sie auf einen Zeitpunkt verschieben, an dem ich die Sitzung aus eigener Tasche und nicht mit meiner Freiheit bezahlen konnte.
    Ich lenkte meine Energien daher ganz darauf, Amaryllis das finden zu lassen, was für uns beide am vorteilhaftesten war – eine leicht zerrissene Persönlichkeit, die in ihrem Buch einen interessanten Absatz abgeben könnte.
    Es machte viel Spaß. Ich war bemüht, die nachprüfbaren Fakten meiner Vergangenheit nicht zu ändern. Darüber hinaus aber waren der Kreativität keine Grenzen gesetzt; wie Dorothy nach dem Wirbelsturm verließ ich die Schwarzweiß-Welt von Kansas und trat in die grellen, bunten Farben von Oz ein. Wie die meisten Seelenklempner war sie auf meine Kindheit fixiert, und ich amüsierte mich köstlich, wenn ich absurde Geschichten über meinen lieben alten Dad erfand, der in Wirklichkeit so früh aus seinem und meinem Leben geschieden war, dass ich keinerlei Erinnerungen an ihn habe. Die meisten davon finden Sie in ihrem Buch. Ich wusste, dass ich ein Talent für die Fiktion habe, lange bevor ich den Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen habe.
    Gleichzeitig war mir bewusst, dass Amaryllis keineswegs auf den Kopf gefallen war. Ich musste davon ausgehen, dass sie meinen Plan, mir selbst zu helfen, indem ich anscheinend ihr half, durchschaute. Ich musste also, wie bei den Schachpartien, auf mehreren Ebenen spielen.
    Es waren nicht viele Sitzungen nötig, bis ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle.
    Doch dann gelang es ihr, mich vollends zu überraschen. Sie begann mit der Frage: »Welche Gefühle bringen Sie jenen entgegen, die Ihrer Meinung nach dafür verantwortlich sind, dass Sie ins Syke gesteckt wurden?«
    »Sie meinen die außer mir?«, sagte ich.
    Es schien mir eine gute Antwort zu sein, sie grinste mich jedoch nur an, als wollte sie sagen, »hören Sie schon auf damit!«.
    Also lächelte ich zurück und sagte: »Sie meinen die Polizisten, die mich verhaftet und die Indizien gegen mich zusammengetragen haben?«
    »Wenn Sie sie für verantwortlich halten«, sagte sie.
    »Da fühle ich gar nichts«, sagte ich. »Ich habe seit dem Prozess noch nicht einmal an sie gedacht.«
    »Sie haben keinen Gedanken an Rache verschwendet? Keine kleinen Fantasien, um sich nächtens die Zeit zu vertreiben?«
    Es war witzig, seit Wochen hatte ich ihr Lügen und Halbwahrheiten aufgetischt, und nun, als ich ihr ohne Ausflüchte und Verdrehungen erzählte, wie es ist, bekam ich von ihr ein ungläubiges Grinsen.
    »Lesen Sie es mir von den Lippen ab«, sagte ich betont. »Rachegedanken haben weder meinen Schlaf gestört noch mich tagsüber umgetrieben. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer, küsse die Bibel und schwöre beim Grab meines Vaters.«
    Ich meinte es genauso, wie ich es sagte, jedes Wort. Bis heute.
    »Wie erklären Sie sich dann das Thema für Ihre Dissertation?«, fragte sie.
    Mir blieb die Luft weg, aus zwei Gründen.
    Erstens: Woher zum Teufel kannte sie den Gegenstand meiner Arbeit?
    Und zweitens: Wie sollte ich es ihr erklären.
    Das Thema der Rache im englischen Drama.
    Konnte es sein, dass tief in mir ein bitterer, Ränke schmiedender Zorn sein Unwesen trieb und ich von Rachegedanken gegen Sie und Mr. Dalziel besessen war, während ich die ganze Zeit über glaubte, ich würde gänzlich rational, ungerührt, gleichmütig und gefasst meine Zukunft gestalten?
    Nun, ich hatte seitdem viel Zeit, um darüber nachzudenken, und ich kann die Hand aufs Herz legen und ehrlichst verkünden, dass mir kein Gedanke an Sie oder Mr. Dalziel durch den Kopf schwirrte, als ich das Thema für meine Dissertation auswählte.
    Wie ich bereits sagte, ich war zu Tode gelangweilt von dem soziologischen Mist, den ich für mein Studium wegzuschaufeln hatte. Ich wollte etwas

Weitere Kostenlose Bücher