Die Launen des Todes
weder Entsetzen noch Überraschung, nur ein wenig Neid.
»Was tun Sie da?«, fragte eine kalte Stimme.
Als ich aufblickte, stand Frère Dierick über mir.
Für das, was ich dann tat, habe ich keine Entschuldigung. Ich hätte eine Lüge erzählen sollen, mir sei Geld runtergefallen oder Ähnliches. Stattdessen stand ich auf, das Kondom zwischen Zeigefinger und Daumen geklemmt, öffnete die Tasche in seiner Robe, in der er sein Notizbuch aufbewahrte, ließ das Kondom hineinfallen und sagte: »So, Dierick, vergessen Sie nicht, auch das in Ihre Notizen aufzunehmen.«
Dann trottete ich zu den anderen davon.
Vor King’s Cross meinte Jacques, er wolle mich noch zu meinem Zug begleiten. Emerald, die im Halteverbot parkte, musste beim Wagen bleiben. Nicht dass sie überhaupt hatte mitkommen wollen, dachte ich untröstlich. Zu meiner Überraschung allerdings gab sie mir, als ich mich nach vorn beugte, um mich bei ihr zu bedanken, ein Küsschen auf die Wange und wünschte mir eine gute Reise.
Auf dem Weg zum Bahnsteig ergriff Jacques die Gelegenheit und klärte mich über Emerald auf.
Von Lindas familiärem Hintergrund wusste ich nur, dass sie einst mit Harry Lupin verheiratet war, dem Eigner einer Billig-Fluggesellschaft. Nach der Scheidung erhielt Linda das Sorgerecht für die beiden Kinder, Emerald, damals acht Jahre alt, und ihrer siebenjährigen Schwester Musetta. (Letztere scheint nach ihrer Mutter zu kommen. Die grandiosen Gene bekam allesamt Emerald ab.)
Nach einigen Jahren hatte Emerald die Schnauze voll, dass sie nach der Politik immer nur an zweiter Stelle rangierte, weshalb sie beschloss, bei ihrem Daddy leben zu wollen. Sechs Monate später, als sie einsah, dass sie nun nach Fliegern und Flittchen an dritter Stelle stand, kehrte sie zu ihrer Mutter zurück und wechselte daraufhin zwischen den beiden Elternteilen und den exklusivsten Privatschulen des Landes, die sie, eine nach der anderen, als unkontrollierbar und unerziehbar einstuften, hin und her. Mit zwanzig Jahren ist sie nun in ihrem letzten Jahr in Oxford.
Musetta dagegen, von engen Freunden »Mouse« genannt, wurde ihrem Spitznamen voll und ganz gerecht, lebte ein sehr ruhiges Leben und verließ das Nest nur zur Nahrungsaufnahme. Sie ist eine Art Lehrerin in Straßburg und, wie Jacques es ausdrückte – ausgehend vom Grundsatz, dass wir den Apfel am meisten lieben, der nicht weit vom Stamm fällt –, der Augenstern ihrer Mutter.
Emerald dagegen schien ziemlich weit gekullert und gehüpft zu sein.
Ohne etwas zu sagen, das vor Gericht als eindeutig verurteilenswert anerkannt worden wäre, vermittelte Jacques die unmissverständliche Warnung, dass ich von beiden Töchtern strikt die Hände lassen solle, wenn ich meine gute Beziehung zu Linda aufrechterhalten wollte.
Du alter Heuchler!, dachte ich und erinnerte mich an das Kondom.
Aber dann blickte ich in seine strahlenden blauen Augen in seinem so offenen, attraktiven Gesicht und fühlte mich beschämt. Wie konnte ich ihn für etwas verurteilen, wonach ich mich selbst sehnte?
Wir umarmten uns sehr innig. Es war lange her, dass mich jemand auf diese liebenswerte, familiär-vertrauliche Weise in den Arm genommen hat. Als ich dann aber im Zug saß, kreisten meine Gedanken einzig und allein um Emerald. Verzweifelt klammerte ich mich an jenes abschließende Küsschen, das sie mir auf die Wange gedrückt hatte. Lag auch darin etwas Liebenswertes? Vielleicht vögelte sie mit Jacques nur als Akt der Auflehnung gegen ihre Mutter?
Ich brauchte Hilfe, ich brauchte Zutrauen. Ich kramte Jacques’ Buch aus der Tasche und wollte sehen, ob seine Worte mir nicht körperlichen und seelischen Frieden schenken konnten.
Ich überließ es dem Schicksal, eine Seite aufzuschlagen, und siehe da, der erste Absatz, auf den mein Blick fiel, war folgender:
Dass Menschen allein und für sich sterben müssen, ist ein platter und trügerischer Zynismus. Suchen Sie sich einen Mann oder eine Frau – Freund, Guru, Mentor, Vater- oder Mutterfigur, Sie können sie bezeichnen, wie Sie wollen, aber jemanden, den Sie als das stille Zentrum Ihrer turbulenten Gedanken sehen –, jemanden, dem Sie uneingeschränkt und vorbehaltlos all Ihre Hoffnungen und Ängste, Leidenschaften und Begehrlichkeiten anvertrauen können, und Sie werden einen großen Schritt hin zu dem Seelenfrieden getan haben, der das Ziel all unserer Bemühungen ist.
Und schlagartig wurde mir bewusst: Genau das habe ich in Ihnen gefunden, Mr. Pascoe! Und
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