Die Launen des Todes
deshalb schreibe ich Ihnen im Moment einen weiteren Brief auf dieser ach so langsamen Zugreise in den Norden. Draußen presst sich die Nacht an die verschlierte Fensterscheibe. Lichter ziehen vorbei – Autos, Straßenlampen, Häuser, abgelegene Cottages –, alle verweisen auf menschliche Anwesenheit, nicht aber auf eine menschliche Gemeinschaft; nein, genauso gut könnten sie Phantome sein, die über ein düsteres Moor huschen, so wenig Trost spenden sie mir. Und meine Mitreisenden, von denen jeder in seiner privaten Zeitkapsel eingeschlossen ist, in die wir uns auf langen Zugreisen einspinnen, könnten ebenso gut Aliens aus einer fernen Galaxie sein.
Aber ich habe Sie, und es spielt kaum eine Rolle, ob ich Sie als meinen Guru oder Freund oder, trotz Ihrer Jugend, als die Vaterfigur ansehe, die ich niemals hatte. Wichtig ist nur: Ich weiß, dass ich Sie als eine Art Third-Thought-Therapie benutze, ungeachtet der Motivation, aus der heraus ich ursprünglich den schriftlichen Kontakt zu Ihnen aufgenommen habe! Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Vielleicht können Sie sich ja dazu durchringen, mir zu antworten oder sogar (darf ich es wagen, dies zu fragen?) mich kurz anzurufen, um zu sehen, dass ich wieder in Mid-Yorkshire bin? Wo, wie die futuristisch-blecherne Stimme aus dem Lautsprecher verkündet, wir, was ganz und gar unglaublich ist, in Kürze eintreffen werden.
O Freudentraum! Hab wirklich ich die Spitze des Leuchtturms erkannt? Ist das der Hügel? das die Kirche? das mein Heimatland?
Ich glaube, es ist es. Ich werde dies morgen zu Ende schreiben.
Hallo, hier bin ich wieder! Wie schnell sich die Dinge doch ändern. Nur für den Fall, dass Sie vorhaben, in den nächsten Tagen bei mir vorbeizuschauen, sparen Sie sich die Mühe, ich bin nicht mehr hier. Oder, besser, nicht dort!
Folgendes ist geschehen. Ich wachte heute Morgen sehr zeitig auf – die Konditionierung durch das Syke! Da ich erst morgen wieder bei der Arbeit erwartet werde, ließen die neu geweckten Hoffnungen, doch noch einen Verleger für Sams Beddoes-Biographie zu finden, mich die Arbeit daran wieder aufnehmen. Unverzüglich begab ich mich zur Universitätsbibliothek, wo ich den ganzen Tag verbringen wollte, vermutlich ohne Pause, wie ich es gern tue, wenn ich mich an etwas festgebissen habe.
Doch kaum hatte ich begonnen, wurde ich durch die Ankunft von Charley Penn unterbrochen.
Charley verfügt über viele ausgezeichnete Eigenschaften, er hat mich bei meinen literarischen Ambitionen ungemein unterstützt und ermutigt sowie mir mit praktischen und kreativen Ratschlägen beigestanden. In allen von uns gibt es Licht und Schatten; bei einigen herrscht das eine vor, bei manchen das andere. In Charley jedoch ist eine Finsternis, die das Helle zuweilen völlig verdeckt. Woraus entspringt sie? Vielleicht ist sie ein Teil seiner deutschen Seele. Obwohl er in Yorkshire aufgewachsen ist, was sehr auf ihn abfärbte, ist er doch in vielerlei Hinsicht ein wahrer Abkömmling seiner teutonischen Vorfahren.
Es war Charley, der meine Aufmerksamkeit auf ein Gedicht von Matthew Arnold mit dem Titel »Heine’s Grave« lenkte. Ein hübsches Gedicht, ein bewegender Tribut an den toten Dichter und eine feinsinnige Analyse, wie er tickte. Arnold spekulierte darin, dass es Heine war, den Goethe meinte, als er von einem nicht näher benannten Barden schrieb, er habe jede Gabe, nur fehle es ihm an Liebe.
So scheint es sich auch mit Charley zu verhalten. Der Einzige, der ihm Gefühle der Liebe entlockte und sie auch erwiderte, war Dick Dee. Dees Tod und die Aufdeckung, dass er wahrscheinlich der Mörder so vieler Menschen war, unter anderem, Gott verdamme seine Seele, meines geliebten Sam, haben Charley ziemlich aus der Bahn geworfen. Oh, meistens ist er so wie immer, ein finsterer, furchtbar zynischer, alles stieren Blicks verfolgender Zeitgenosse, die Finsternis jedoch, die in den Tiefen eines Fichtenwalds herrscht, hat sich in seinem Fall ausgedehnt und umhüllt jetzt auch die Baumkronen.
Das zeigte sich, als ich ihn fragte, was ihn hierher führte statt an seinen üblichen Platz in der Stadtbibliothek.
»Sie hat Urlaub, also dachte ich, gönn ich mir auch eine kleine Pause«, sagte er lakonisch.
Ich benötigte keine Erläuterung.
Sie
ist Ms. Pomona, die nur um Haaresbreite nicht das letzte Opfer des Wordman geworden ist. Charley ist so sehr von der Unschuld seines Freundes Dee überzeugt, dass er sich einredet, die Wahrheit müsse einer
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