Die Laute (German Edition)
marschierender Soldaten werden beschossen, ein offenes Militärauto mit Offizieren fliegt in die Luft. Hin und wieder wird auch ein Ballon getroffen, geht in Flammen auf und stürzt ab. »
Wings
von William Wellman, 1927«, notiert sie für mich. Die einzige noch erhaltene Kopie befinde sich gegenwärtig zur Restauration auf ihrem Arbeitstisch.
Minutenlange Einstellungen ohne einen Schnitt: Ein hübsches schlafendes Mädchen, über dessen vollkommen nackten Körper eine Fliege läuft und ihn Zentimeter für Zentimeter erforscht, Schamhaare und Körperöffnungen eingeschlossen. Ausschließlich Nahaufnahmen, auf denen die Brustspitzen wie Berggipfel aussehen und der Körper ein eigener Kontinent für das Insekt zu sein scheint. – Cześka gibt keine weiteren Informationen zu diesem Filmexperiment, doch ich schätze siebziger Jahre, gedreht von einer Frau.
Nüchterne, leidenschaftslose Einstellungen, das seitliche Aufschlitzen der Leiche, die Entfernung der Organe, das Öffnen des Schädels mit Hilfe einer elektrischen Säge, das Ablassen von Blut und anderen Körperflüssigkeiten, die Fliege, die über die reglose Fußsohle kriecht, ohne dass der Pathologe sie verscheucht. Die leere Bauchhöhle mit einem nach außen sich öffnenden Loch am unteren Ende, der Penis, der schlaff am aufgeklappten und ausgeräumten Rumpf hängt, lebende Hände in Gummihandschuhen, die tote Hände berühren oder beiseite schieben. – Dasselbe Jahrzehnt, vermute ich, ein ähnliches Sujet, doch inszeniert von einem Mann. »
The Act of Seeing with One’s Own Eyes
«, schreibt Cześka, »von Stan Brakhage, 1971.«
Mit eigenen Augen sehen. Autopsie. Ist das auch ein Motiv Apollons: Herausfinden, was der Mensch ist, was in ihm steckt, was ihn von den Göttern unterscheidet?
Sie schaltet den Rechner aus, zieht sich rasch an, mit dem Rücken zu mir. Dann schreibt sie eine letzte Notiz: »Ich werde nicht mehr herkommen. Dein Nachbar macht mir Angst.«
Seit wann lässt sie sich von den Blicken anderer einschüchtern? Meistens nimmt sie es nicht einmal wahr, wenn sie angestarrt wird. Und wenn, interessiert es sie nicht.
Ich verstehe es nicht. Doch wenn sie gehen will, soll sie gehen. Inzwischen waren ihre Filmschnipsel ohnehin weit aufregender als unser Sex.
Ich schaue aus dem Fenster, barfuß, immer noch nackt, obwohl es kalt im Zimmer ist. Nieselregen. Graue Wolken, die sich angewidert umarmen. Die ganze graue Stadt unscharf, in Schlieren, und die Passanten verschwommene Gestalten, Fleischbrocken, wie in Sülze eingekocht.
Lange stehe ich da, starre auf die feinen Regentropfen auf der Fensterscheibe, beobachte, wie sie zu immer dickeren Tropfen zusammenfließen, sich aber nicht entscheiden können, die Scheibe hinabzurollen und am Holzrahmen zu zerplatzen. Auf dem Glas bildet mein Atem einen milchigen Dunst, die Außenwelt wird noch unschärfer. Es ist, als würde ich langsam in einen Traum zurückgleiten.
Doch sobald ich mich vom Fenster losreiße, ins Bad oder in die Küche gehe, werde ich unzweifelhaft in meine Wohnung in der ulica Ludźmierska, Nowa Huta, zurückgekehrt sein, mir meinen Arbeitstee kochen, mit liniertem Papier und angespitztem Bleistift ins Bett zurückkehren und mich auf meinen Marsyas stürzen, wie vergeblich diese Quälerei auch immer sein mag.
Sie hängt da, an einem einzigen glänzenden Faden, ohne auch nur begonnen zu haben, ein Netz zu bauen. Seit mehreren Tagen schon beobachte ich sie, doch ihre stoische Untätigkeit irritiert mich. Gehört sie zu einer Spinnenart, die kein Netz baut? Wie fängt sie dann ihre Beute? Bisher hat sie sich noch kein einziges Mal aus ihrer Ecke fortbewegt, ein Tier mit einem winzigen Körper und riesig langen Beinen, also mitnichten eine fette, schwarzbehaarte Jagdspinne mit Giftdrüsen in den Kieferzangen.
Sie sieht nicht gerade liebenswert aus, trotzdem lasse ich sie ungestört an ihrem Faden hängen. Vielleicht entschließt sie sich ja noch, ein Netz zu spinnen, auch wenn sie in diesem dunklen Dreieck zwischen Decke und Zimmerecke und in dieser kalten dunklen Jahreszeit kaum auf durchreisende Insekten hoffen darf. Oder wartet sie auf etwas ganz anderes, einen Partner zur Begattung vielleicht? Für einige Spinnenarten, erinnere ich mich, ist es ja dasselbe, der Liebhaber und das Festmahl.
In einer Variante des Mythos heißt es, Athene habe die erste Doppelflöte aus den Knochen eines Steinbocks geschnitzt. Neben der Flöte erfindet sie die Trompete, den gebrannten Tontopf, den
Weitere Kostenlose Bücher