Die Laute (German Edition)
Pflug, den Rechen, das Joch der Ochsen, den Zaum des Pferdes, den Wagen und das Schiff. Auch gilt sie als Begründerin der Wissenschaft von den Zahlen, der Kochkunst, des Webens und Spinnens und der Kriegskunst. Ein Demiurgenwerk, das gemeinhin eher männlichen Göttern und Heroen, mit Ausnahme der Kochkunst vielleicht, zugesprochen wird.
Und wie ihre männlichen Rivalen ist sie in geradezu kindischer Weise eitel. Bei einem Gelage der Götter spielt sie auf ihrer gerade erfundenen Flöte. Anfangs versteht sie nicht, warum Hera und Aphrodite spöttisch über ihre neue Kunst lächeln, während die neuen, unerhörten Töne die anderen Götter doch zu verzaubern scheinen.
Sie spaziert allein mit ihrer Flöte zu einem Fluss im phrygischen Wald und beobachtet ihr Spiel im Spiegel des Wassers. Nun sieht sie, wie lächerlich ihr gerötetes Gesicht und ihre aufgeblasenen Backen auf die Zuschauer wirken müssen, wirft das neue, beschämende Instrument fort und verflucht jeden, der es aufheben und benutzen sollte.
Dann stolpert der junge hübsche Faun Marsyas über die Flöte. Kaum hat er sie an die Lippen gesetzt, entströmt ihr die berührendste Musik. Die Waldnymphen weinen, die Holzfäller und Köhler lassen ihre Arbeit ruhen.
Marsyas ist kein wohlerzogener Mensch, zumindest besitzt er nicht das, was man eine ›klassische Bildung‹ nennt. Eher ist er eine Art Naturbursche. Niemals hätte er es Athene an Erfindungsgabe und Kunstverstand gleichtun können. Trotzdem entströmen seinem Herzen immer wieder neue Melodien, als würde der Kosmos selbst seine Harmonien durch ihn erklingen lassen.
In Worten hätte Marsyas nie mitzuteilen gewusst, was er fühlt, wenn er Tage und Nächte die Wälder durchstreift. Aber nun, sobald die Nacht hereinbricht, die Sterne aufgehen und selbst ein Faun sich in der Unermesslichkeit des Alls ganz allein und ganz im Zentrum fühlt und die Wahrheiten eine nach der anderen vorüberziehen und sich in Luft auflösen sieht, wird alles licht und klar im Klang der Flöte.
Ist es nicht auch jener Gott der Musen, Apollon, der den strahlendsten Helden der alten Zeit, Achilleus, trotz seiner Panzerhaut tötet? Nur die Götter wussten von der einen verwundbaren Stelle, an der Peleus zugriff, um seinen Sohn aus der glühenden Asche zu retten.
MARSYAS
Den Lebenden Apoll hast du nur halb umarmt
Nun küss das rote Fleisch bedeck und schütze es
Mit deinen Küssen bevor es dahingeflossen ist
Apollon zögert einen Augenblick angesichts der komplizierten Partie zwischen den Lenden; weiß nicht recht, wie er den Schnitt ansetzen soll, die Haut von Penis, Hoden und After abzuziehen, ohne sie zu beschädigen. Er befingert die gedrungenen Geschlechtsteile des Fauns, fachmännisch, ohne erregt zu sein.
Eine ähnlich große Herausforderung stellt auch das Gesicht dar, wo die Außenhaut mehrfach in Innen-, Schleimund Höhlenhaut übergeht. Noch stöhnt und stammelt Marsyas. Das Gesicht spart Apollon sich für das Ende auf. Begonnen hat er mit den Fußsohlen: »Deine Füße, Marsyas, sie stinken!«
Er selbst trägt Löwenfellsandalen, obwohl er wenig zu Fuß geht. So hingestreckt, den haarigen Arsch in der Luft, sieht er aus wie ein Stück Vieh, denkt Apollon. Einen Jüngling oder Knaben mag man ja noch in den Arsch ficken wollen. Aber in dieses Kotloch eines Fauns? Nein, die Lust, Frauen zu vergewaltigen, überwiegt da doch bei weitem!
Natürlich ist Apollon unschuldig. Zumindest unschuldiger als Marsyas, der aus allen Körperöffnungen und Hautfalten nässt. Apollon ist wie ein Kind, grausam nicht aus Bosheit, sondern aus Neugier. Für ihn ist die Welt nur eine Art Geräusch, wie man es im Traum hört. Als Gott ist er sich niemals sicher, ob dieses Geräusch nur in seinem Kopf existiert oder eine Realität außerhalb seines Bewusstseins besitzt. Letzteres wagt er zu bezweifeln.
Darm, Mundhöhle, Speise- und Luftröhre, alles ein und dieselbe Haut, ausdifferenziert zwar, aber wie ein Möbiusband zusammenhängend, innen und außen, einmal aussperrend, einmal einhüllend.
Apollon versucht, diese eine Haut nicht zu beschädigen und die ganzen inneren, umhäuteten Schlingen, Beutel und Höhlen behutsam vom Umschlungenen zu trennen. Kann man überhaupt von einem Innen und Außen sprechen, wenn Harn- und Speiseröhre, Dickdarm und Gehörgang nahtlos in die Außenhaut übergehen? Gibt es nicht ein inneres Äußeres, Luft, Speisen, Kot, Lichtstrahlen und Klänge zum Beispiel, und müsste es dementsprechend nicht
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