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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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auch ein äußeres Inneres geben, Weltschweiß vielleicht, kosmischer Eiter, Universumsgalle oder, viel einfacher, das, was ich in der Hand halte, unter der Achsel, im Arm?
    Hauttöne wie Nüsse, Honig, Kaffee, Sand, Kohle, Teer, mitternachtsfarben, dann hell und porös wie ein Schwamm, wie Rohseide, inwendig rot wie Orchideenpollen, zitronenhäutig, milchweiß, walnussbraun, zimtig, nelkenhaft, alle diese Farbschattierungen finden sich von Marsyas’ Stirn über seine Lippen (himbeerfarben), Achseln (mattes Elfenbein), Brustwarzen (altrosa wie die Zunge), dem dunklen Kakaobraun seines Hodensacks und dem Leberfleckbraun seiner Penisnaht bis zum Markenbuttergelb der Fußsohlen, ein Regenbogen von Weiß-, Rot- und Schwarztönen, hier und da eine eierschalenfarbene Hornhaut, eine warzengraue Narbe, aber sonst makellos, ohne Sommersprossen, Pickel, Pilze, Flechten, Schuppen, Krusten, Muttermale.
    Der Anblick dieses nackten, aber ebenmäßigen Körpers blendet und bestürzt Apollon. Der Faun besitzt die schlanke keusche Magerkeit eines Rehs. Und Apollon spürt die Nacktheit seines Opfers wie elektrische Funken in seinem Nervengeflecht aufstieben.
    Von diesem inneren Feuer lässt er sich selbstverständlich nichts anmerken, hat er doch den Ruf eines coolen Gottes zu verlieren.
    Die Haut des Marsyas strahlt eine Art magnetisches Feld ab, das Apollon anzieht, mehr als sein Blick oder seine Stimme es je vermocht hätten. Er spürt die Wärme, die Feuchtigkeit, den Geruch, den diese Haut noch ausatmet, und würde sich zweifellos, wenn er sich unbeobachtet glaubte, lieber an sie schmiegen, anstatt auf sie einzustechen und sie aufzuschneiden.
    Er selbst fühlt sich plötzlich, als habe er eine Haut aus Chitin, einen Raupen oder Käferpanzer, als einziges Sinnesorgan feine Nesseln, der Rest unempfindlich wie ein Fingernagel. Und vom Schauer der Nähe des Anderen bleibt nur eine Pockenspur.
    Ist es nicht denkbar, dass der Sitz unserer Seele in unserer Haut liegt?
    MATERIAL: Akustische Funde (Samples trouvés), die elektronisch weiterbearbeitet werden
    Krakauer Straßenbahn; modal (tiefer, langsamer)
    Ambulanz des Szpital Żeromskiego (Auswahl, Collage, Modifikationen …)
    Klangfelder unterschiedlicher Struktur (Dichte, Farbe, Dynamik, Zeit …)
    Hybride elektroakustische Instrumente (Streichklavier, Blastrommel, Zupfblechbläser …)

    Bei der ersten habe ich mir noch nichts gedacht. Ich bin ja in direkter Nachbarschaft mit ihnen aufgewachsen. – Ich finde sie regungslos in der Zuckerdose, ein harmloses schwarzes Komma. Hat sich vermutlich an der Süße überfressen. Zuckerschock. Ich pule sie aus dem körnigen Schneeberg und werfe sie achtlos in die Spüle.
    Vielleicht ist diese Achtlosigkeit ja der Anfang. Vielleicht ist dieses erste unscheinbare Insekt eine Art Pfadfinder, eine Vorhut, ein Aufklärer, und hat sich bei der Entdeckung und Eliminierung nur totgestellt, um mich zu täuschen.
    Und tatsächlich denke ich nicht weiter darüber nach, wie sie in den zweiten Stock meines Wohnblocks, wie sie in meine zugegeben nicht recht sauberen, bisher aber ungezieferfreien Küche und dort in die luftdicht verschlossene Zuckerdose gelangt sein könnte. Womöglich als blinder Passagier in einem meiner Schuhe oder in einer Einkaufstüte. Doch nun ist es zu spät, darüber nachzugrübeln, denn der Scout hat einen Weg zurück ins Basislager gefunden und seine Stammesgenossen von den abwechslungsreichen Genüssen in meiner Küche unterrichtet. Er hat diesen Weg so gut markiert, dass selbst der größte Idiot in seiner Kolonie ihn findet, und nun sind sie auf dem Weg, ein endloser Treck, immer an den Rändern und Kanten entlang, ich entdecke sie im Kühlschrank und in der Brotlade, sie verschmähen weder Zwiebeln noch Weinessig, wohin ich auch greife, finde ich eine nervöse Kruste dichter schwarzer Ameisenleiber.
    Meine Mutter hat Lavendel benutzt, um die Ameisen aus ihrer Küche und von unseren Betten fernzuhalten. Ich mache mich gleich auf den Weg zur
Apteka
am plac Centralny, in der ich Lavendelöl zu finden hoffe.
    Inzwischen ist der plac Centralny eigentlich nach Ronald Reagan benannt, doch niemand nennt ihn so, zumindest niemand in Nowa Huta. Dort befindet sich neben der Apotheke auch eine große Buchhandlung, die trotz ihrer Größe nie die Titel vorrätig hat, die auf meiner Liste stehen, eine Chemische Reinigung, deren Benzingeruch mich immer an Beerdigungen erinnert, vielleicht der selten getragenen Anzüge wegen, und ein

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