Die Laute (German Edition)
Art Blitz getroffen, und plötzlich waren die Verse da, in ihm, Stimmen, die er dann in Worte fasste?
Asis mustert das heruntergekommene Haus, in dem Nagar Juna zwanzig Jahre lang lebte. Nicht einmal eine Tafel erinnert an den großen Dichter. Aber es muss das richtige Haus sein. Juna hat die Anschrift mehrmals in seinen Briefen erwähnt.
Asis spürt hier nichts von Poesie. Aber es war ja auch nur ein Kontor, ein Lager- und Geschäftshaus, in dessen oberem Stockwerk Nagar Juna seine Wohnung hatte. Als er hierher zog, hatte Juna das Dichten schon lange aufgegeben. Hier lebte nur der Kaufmann Nagar Juna, der mit Kaffee und Waffen handelte.
Aber kann man diese Stimmen einfach von heute auf morgen zum Schweigen bringen, so wie Asis von heute auf morgen sein Gehör verlor?
Hier hat er zwar keine Gedichte mehr geschrieben, aber viele Briefe, vor allem an seine Mutter und seine Schwester in Delhi. Asis hat den Band mit den Briefen Nagar Junas dabei. Nun holt er ihn aus dem Rucksack und setzt sich in das Cafe gegenüber von Junas ehemaligem Kontor.
»Ich habe mir Aden weiß und blau vorgestellt, eine weißblaue Stadt am Meer. Nun finde ich einen Ort aus Vulkangestein und Asche vor. Und statt der Möwen Krähenschwärme über dem Himmel der Stadt und auf den Schlafbäumen, deren Namen mir niemand nennen kann«, liest Asis in einem Brief Nagar Junas an seine Schwester.
»Doch das erste, was der Körper spürt und was unmittelbar ins Bewusstsein dringt, wenn er aus der süßen Fadheit Delhis kommt, ist die dichte, fast mit Händen zu greifende Seeluft, salzig, feucht und schwer, ein Gemisch aus faulendem Fisch, trocknenden Netzen und Teer. Diese Luft hat einen eigenen Körper, in dem ich mich anders bewege als daheim, in dem ich fast schwimme, ohne darin zu ersticken.
Und diese Weichheit der Luft wirkt sich, zumindest dem ersten Eindruck nach, auch auf den Charakter der hiesigen Bewohner aus, die mir geschmeidiger und gleichmütiger als die Angehörigen der nördlichen Stämme erscheinen, trotz des schroffen Gesteins, zwischen dem sie sich eingerichtet haben. Wie Asche, dieser feinste, nachgiebigste Aggregatzustand allen Daseins.«
Eine Menge Stoff für Gedichte liegt hier herum. Selbst als Waffenschieber kann Nagar Juna keinen Brief schreiben, in den sich nicht die Poesie hineinschmuggelt. Und Asis hat geglaubt, hier alles zu kennen. Vorläufig liest er einfach weiter. Doch etwas lauert darauf, dass er sich hier verirrt.
Er sitzt da, und Nagar Juna nistet sich in seinem Kopf ein: »Es heißt, das Leben halte eine Menge aus. Aber nicht, wenn man es gegen das Licht hält und plötzlich die Wahrheit sichtbar wird.
Was brennbar ist, ahnt seine Asche.
Der gleichgültige Geruch anderer Leute. Man muss etwas erfinden, um das auszuhalten. Muss es als faden Traum betrachten, damit man nicht gleich an Mord denkt.«
Asis schlägt das Buch zu. Ihm schwindelt. Er fürchtet zu ertrinken. Sucht Halt an den Fassaden aus grauschwarzer Schlacke. In der Scharia Arwa gibt es nur noch wenige erhaltene Häuser mit den für Aden einst charakteristischen hölzernen Erkern, Fensterläden und Veranden, die an das koloniale Bombay oder Kalkutta erinnern.
Asis bezahlt seinen Tee, überquert die Straße und sucht nach einem Zugang zu diesem augenscheinlich unbewohnten Haus. Er rüttelt an dem Eisengitter vor der Haustür, es lässt sich mühelos aufschieben. Doch bevor er prüfen kann, ob auch die Tür unverschlossen ist, eilt ein Mann von der gegenüberliegenden Straßenseite zu ihm, offenbar eine Art Hauswächter, wenn Asis ihn richtig versteht. Er ist nicht unfreundlich. Vielleicht ist er sogar froh über ein wenig Abwechselung. Mehr als den Leerstand gibt es hier ja nicht zu bewachen.
Das Haus werde in einigen Tagen abgerissen, sagt er. Seine Aufgabe sei es zu verhindern, dass bis dahin nicht noch irgendwelche Obdachlosen das leere Gebäude besetzen.
Nein, von einem indischen Bewohner habe er nie gehört. Der Besitzer sei eine Adener Bank. Das einzige, was seiner Kenntnis nach aus Indien stamme, seien die vielen Krähen. Die Briten hätten sie nach Aden gebracht, zur Rattenbekämpfung. Ratten gäbe es heute immer noch, nur keine andere Vogelart mehr.
Asis zögert, den großen modernen Bau neben dem Militärmuseum zu betreten. Jeden Tag kommt er auf seinem Schulweg daran vorbei. Durch die großen Glasscheiben sieht er in eine weite, mit dunklem Marmor verkleidete Halle. Doch nirgendwo ist auch nur ein Buch zu sehen. Uniformierte
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