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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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Monitor, sieben Polizisten und vier Bewohner in angrenzenden Häusern, drei Frauen und ein Kind. Uber mögliche Opfer unter den Angreifern gibt es keine Berichte. Sie konnten eine unbekannte Zahl von Häftlingen aus dem Hochsicherheitsgefängnis im Kellergeschoss der Geheimdienstzentrale befreien und fliehen, ohne einen Verletzten oder Getöteten zurückzulassen.
    Ali kommt ins Zimmer der Jungen. Auch er scheint in dieser Nacht wenig geschlafen zu haben. Er sieht müde aus. Asis spürt nichts von seiner sonstigen unverwüstlichen Heiterkeit.
    Said berichtet seinem Vater, was er herausgefunden hat. Ali nickt ernst.
    »Weiß man schon, wer die Angreifer waren?«, fragt Asis.
    Said wechselt einen kurzen Blick mit seinem Vater. Dann sagt er: »Bei den regierungsnahem Medien ist nur von Terroristen die Rede. Al-Djazeera spricht von ›Separatisten‹. Aber das sind ja alles nur vorläufige Spekulationen!«
    Für Politik hat Asis sich nie besonders interessiert. Als das Land wiedervereinigt wurde, war er noch ein kleines Kind. Und für die Bewohner im Norden hatte sich ohnehin nicht viel verändert.
    Was die Wiedervereinigung für den Südjemen bedeutet haben könnte, ahnt er erst, seitdem er in Aden, der ehemaligen Hauptstadt des Südens, lebt. Aden ist anders als der übrige Jemen. Selbst jetzt, vierzehn Jahre nach der Vereinigung, sind die unterschiede noch spürbar. Aden liegt am Meer, offen nach Afrika, dessen Küsten kaum zweihundert Kilometer entfernt liegen, näher als die Hauptstadt, verbunden mit Indien, mit dem es eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte teilt, ein Kind Englands, dessen Spuren auf Schritt und Tritt in der Architektur der Stadt sichtbar sind. Drei Kontinente treffen hier in Aden aufeinander und bilden etwas Neues, Einmaliges. In vieler Hinsicht ist sie das Gegenteil der zweitausend Jahre lang isolierten Hauptstadt des Nordens, hoch in den Bergen, unzugänglich für alle Fremden und alles Fremde. Und diese ferne, stolze, selbstgenügsame Hauptstadt hat nun auch die Herrschaft über diese meeroffene Stadt auf dem Grund eines erloschenen Vulkans übernommen.
    Sicher haben die nächtlichen Explosionen mit diesem Konflikt zu tun. Es ist ja nicht das erste Mal, dass die Spannungen zwischen dem Norden und dem Süden sich in Gewalt entladen. Aber es ist das erste Mal, dass Asis sich inmitten des Pulverfasses befindet.
    Und wo stehen Ali und Mussa und Said? Ali arbeitet zwar als Zollinspektor für die Regierung, und Mussa dient sogar gerade in der nationalen Armee, aber das Haus al-Halawi, weiß Asis längst, ist eine der ältesten und einflussreichsten Familien Adens.
    Trotz dieser abenteuerlichen Nacht schickt Ali die beiden Jungen in die Schule. Asis’ Schulweg führt direkt am Gebäude der Staatssicherheit in Khor vorbei. Aus dem Busfenster sieht er die aufgesprengte Eingangstür und riecht den Rauch. Die Feuer sind offenbar gelöscht, aber noch hängt der Geruch von verbranntem Holz und Kunststoff in der Luft.
    Das Gelände ist weiträumig abgesperrt. Der Verkehr staut sich. Nicht nur, weil sich alle Wagen eine Fahrspur teilen müssen. Alle wollen auch einen neugierigen Blick auf dieses geschändete Symbol der Staatsmacht werfen.
    Auch in der Schule sind die nächtlichen Ereignisse das Thema Nummer eins. Alle haben die Erschütterungen gespürt. Aber die wenigsten wissen, was genau geschehen ist. Die jemenitischen Medien haben bisher nichts verlauten lassen.
    Also berichtet Asis seinen Klassenkameraden, was er gesehen und was Said am Morgen über das Internet in Erfahrung gebracht hat. Je mehr er erzählt, desto besorgter blicken die Gesichter um ihn herum.
    »Die Regierung wird sich das nicht gefallen lassen«, gebärdet Ghufran. »Und wir alle werden die Reaktion zu spüren bekommen.«

42
    Ein graues, zweistöckiges Gebäude an der vielbefahrenen Scharia Arwa, kleine rechteckige Fenster zur Hauptstraße, keine Holzbalkone oder geschnitzten Erker, ein heruntergekommenes ehemaliges Hotel, das nun leer steht und nur noch den Krähen und Ratten als Nistplatz dient. Hier also hat er fast die Hälfte seines Lebens verbracht. Und kein Wort mehr geschrieben. Zumindest keine Gedichte und keine Stücke mehr.
    Alle seine Gedichte schrieb er im Alter zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren, also etwa in dem Alter, in dem Asis jetzt ist. Wie kann das sein? Woher hat er seine Verse genommen? Er konnte doch bis dahin kaum mehr erlebt haben als Asis in den vergangenen sechzehn Jahren. Hat auch ihn irgendeine

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