Die Laute (German Edition)

Aufseher stehen untätig herum. Niemand betritt oder verläst das Gebäude.
    Alle Blicke sind auf ihn gerichtet, als er endlich den Mut findet und in das düstere Marmorfoyer tritt, doch keiner spricht ihn an. Vorbei an Schwarzweißfotografien von Aden, wie es vor hundert Jahren einmal aussah, geht er die Treppe zum Lesesaal hinauf. Damals gab es dieses Bibliotheksgebäude noch nicht. Aber sonst hat sich Crater nicht sehr verändert. Nur die Autos und die Kleider sehen inzwischen anders aus. Auf den Fotografien sind die Straßen noch frei von Automobilen, und keiner der Männer trägt eine Hose oder gar einen Anzug.
    Die Hälfte der Regale im Lesesaal ist leer. Und auch das, was er vorfindet, sind zu einem großen Teil zusammengeheftete Fotokopien von Büchern. Fast scheint ihm Alis Büchersammlung reicher als dieser lückenhafte Bestand der Adener Nationalbibliothek zu sein.
    Die Bibliothekarin, eine magere Frau, die auf geradezu verblüffende Art wie geschaffen für diesen Ort wirkt, fragt ihn nach seinen Wünschen. Asis zeigt auf seine Ohren, dann schreibt er auf seinen Notizblock: »Bücher von oder über Nagar Juna.«
    Die Frau schüttelt den Kopf. »Nagar Juna ist kein arabischer Autor, oder?«, fragt sie.
    »Er ist Inder, hat aber viele Jahre in Aden gelebt«, schreibt Asis.
    »Wir haben hier nur sehr wenige Bücher von ausländischen Autoren«, erklärt sie. »Und selbst um unsere eigenen Dichter ist es nicht gut bestellt. Du siehst ja selbst. Vielleicht versuchst du es mal in der Universitätsbibliothek!«

43
    »Was fangen wir an mit unserem Alleinsein in dieser teilnahmslosen Unendlichkeit? Je besser wir das Universum verstehen, desto weniger Sinn können wir darin entdecken.
    Ein Anfang ist nicht zwingend notwendig.
    Doch enthält unser Universum nicht genügend Materie, so ist die Schwerkraft nicht in der Lage, seine Ausdehnung zu stoppen. Früher oder später haben dann alle Sterne ihren Brennstoff aufgebraucht, werden erlöschen, und das All wird in eine lange kalte Dunkelheit eintauchen, aus der nach und nach jede Wärme entschwindet. Die Temperatur wird sich immer mehr dem Nullpunkt nähern, doch ohne ihn je zu erreichen. Da es keine Energie mehr gibt, die das Leben, wie wir es kennen, erhalten könnte, wird es gänzlich vergehen. In dieser entfernten, aber kommenden Zukunft wird das Universum nur noch ein gigantischer Ozean strahlenden Schaums sein, der sich unumkehrbar in endlose Leere auflöst.«
    Diese Sätze sind wie eine Folter. Zugleich hat Asis das Gefühl, Nagar Juna spreche ihm aus der Seele. Nie zuvor hat er solche Sätze gehört. Hier gibt es das ja nicht, eine zweifelnde, eine komplizierte Seele. Hier repariert man die Uhr mit Hammer und Amboss.
    Seit dem Angriff auf die Geheimdienstzentrale schläft er schlecht und verbringt halbe Nächte mit Lesen. Zwar hat er, nachdem Mussa fort ist, wieder ein Bett für sich, aber die innere Unruhe lässt ihn nicht los. Und diese fatalistischen Sätze des Inders tragen auch nicht gerade zur Entspannung bei. Im Gegenteil, sie erschüttern ihn, erschüttern ihn mehr noch als die Bomben und Granaten, und machen ihn zugleich süchtig.
    Er zwingt sich, den Briefband beiseite zu legen, und schlägt sein Lieblingsbuch auf. Das hat ihm bisher immer Trost gespendet.
    Aber Hutters Kräfte erhielten sich noch länger, als die Mädchen für möglich gehalten hätten. Zuzeiten sprach er vernehmlich, öfter aber bewegten sich seine Lippen nur, um Töne auszustoßen, welche dem Geiste keine deutliche Vorstellung gaben. Judith lauschte gespannt, und sie hörte die Worte: Gatte, Tod, Seeräuber, Gesetz, Skalpe, und verschiedene andere von ähnlicher Wichtigkeit
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    Jeder Mensch mit einem Geheimnis. Einem Bruch in seiner Biografie. Einer zurückgelassenen, fast vergessenen oder absichtlich vergrabenen Vergangenheit. Hat jeder zwei Leben? Alle Vorfahren, Kindheit und Jugend abgeschnitten, amputiert? Hier im Jemen darf es das nicht geben. Jeder repräsentiert die Summe seiner Familie und seiner Ahnen. Ohne ihren Namen ist er nichts. Hier darf es keinen Bruch, keinen Neuanfang keine abgeschlossene und hinter sich gelassene Geschichte geben. Es gilt allein, sein Gesicht zu wahren und den Namen rein zu erhalten. Ihn zu beflecken ist gleichbedeutend mit dem Tod.
    Alle diese Menschen mit ihren Geheimnissen! Die Buchhelden sind ihm unheimlich. Was weiß er denn schon von ihnen, wenn man ihre Vergangenheit und ihre Herkunft nicht kennt? Selbst wenn man wollte, wird man allein