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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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durch einen Ortswechsel noch kein neuer Mensch. Man schleppt doch sein ganzes Vorleben mit, auch wenn man es die neuen Bekannten nicht gleich merken lässt. Aber irgendwann schimmert es durch die brüchig gewordene Maske, wenn manchmal auch, wie bei Hutter, erst in der Stunde des Todes.
    Er hält oft inne, liest Sätze ein zweites Mal, träumt zwischendurch. Immer noch stößt er auf unbekannte Wörter, doch schlägt sie nicht nach. Die Geschichte selbst wird sie schon preisgeben. Also liest er weiter, die Helden und ihre Abenteuer wie ein Film vor seinen Augen, liest, bis es keine Wörter, keine Geschichten mehr sind, sondern Selbsterlebtes, und er am Ende über die geöffneten Buchseiten doch noch einschläft.
    Er steht früh auf, will noch ein wenig in Alis Bibliothek stöbern, bevor er zur Schule geht. Einiges von dem, was in der Nationalbibliothek fehlt, hofft er, in den Bücherschränken Alis zu finden.
    Dschaurab min Dschild
, Lederstrumpf – welcher Schriftsteller kann so bösartig sein, dem Helden seines Romans solch einen Namen zu geben? Warum nicht gleich ›Stinkender Stiefel‹ oder ›Löchrige Socke‹? – Er muss über den Schalk seines Lieblingsautors lächeln. Der Familienname klingt ja auch nicht viel respektvoller: Natty Bumppo. Der Junge ist kaum älter als er selbst. Natürlich lebt er nicht in derselben Welt wie Asis, dieser Welt der Eckensteher, Qatkauer und Wodkaschmuggler. Und doch ist es auch seine Geschichte. Wildtöter will ein guter Mensch sein. Bisher hat er noch nie einen anderen Menschen getötet. Aber die Wildnis zwingt ihn, selbst das Töten zu lernen, will er das Leben der Freunde schützen. Auch Asis würde für das Leben eines Freundes wie Chingachgook oder Amir das Leben eines anderen nehmen. Da hat er keinen Zweifel. Die Liebe zum Freund ist noch wichtiger als die Liebe zu Frauen. Die Liebe zu Frauen passt so wenig in den Wilden Westen wie auf die Arabische Halbinsel.
    Als er Alis Arbeitszimmer betritt, riecht er ihn sofort, den verbrannten Tabak. Niemand im Hause der Halawis raucht. Und schon gar nicht in Alis Bibliothek. Dann sieht er ihn, den fremden Mann, rauchend auf einer Matratze, die nicht hierher gehört, vor der Abteilung der Fachbücher über Zollbestimmungen und Internationalem Strafrecht.
    Der Mann trägt einen blauen, ölverschmierten Overall. Eine verblasste, tintenfarbige Tätowierung kriecht ihm aus dem Halsausschnitt zur Kehle. Eine Schlange. Oder eine Schlinge? Asis ist sich nicht sicher. Vielleicht ein Seemann, denkt er. Wer ließe sich sonst solche Hautbilder stechen?
    Er steht hastig auf, lässt seine Zigarette fallen und tritt sie einfach auf dem alten, kostbaren Parkettfußboden aus. Er ist groß und hager und lässt die Schultern hängen, als wäre ihm seine Körpergröße peinlich. Er wirkt noch fremder in diesem Haus als Asis. Sie starren sich einen unendlich langen Augenblick an. Der Fremde hat ein schmales Gesicht, schwarzes, kurzgeschorenes Haar, Bartstoppeln und rotentzündete Augen. Asis würde ihn für einen Trinker halten, einen jener Obdachlosen am Tahrir-Platz, die in Pappkartons hausen. Aber wie käme so ein Mensch in Alis Bibliothek?
    Der Blick des fremden Mannes ist alles andere als glasig und betrunken. Er sagt etwas, zwei Silben nur, die Asis nicht versteht, dann geht er an Asis vorbei, verschwindet im dunklen Korridor und lässt Asis allein in der Bibliothek zurück.
    »Mach das nächste Mal ein Foto«, schimpft Said. »aber unauffällig!«
    »Ein Foto? Womit denn?«
    Said zieht ihn zu seinem Computer, gibt sein Passwort ein, so schnell, das ein ungeübteres Auge als Asis’ es kaum würde mitlesen können, und öffnet nun eine Datei mit dutzenden Fotos, alles Männergesichter, en face und im Profil, wie in den Karteien der Polizei.
    »Dann wollen wir mal sehen, ob wir deinen Großen Unbekannten finden!«
    »Was ist das?«, fragt Asis beunruhigt.
    »Die Besucher meines Vaters in den letzten sechs Monaten,« erklärt Said nüchtern. »Einige sind Zollbeamte, Arbeitskollegen meines Vaters, du erkennst sie an ihren Schnurrbärten. Die bartlosen Typen sind Ausländer, überwiegend Russen, Verbindungsoffiziere von den Handelsschiffen im Hafen. Und die hier, die Vollbärtigen, sind am interessantesten!«
    Asis schaut Said fragend an. Für ihn sehen sie aus wie ganz normale Männer aus den Stammesgebieten.
    »Genau!«, erklärt Said. »Das sind Stammeskrieger aus Abjan und anderen Provinzen. Was haben sie mit russischen Frachtschiffen und

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