Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
Einhaltung ganz zu schweigen!
    Ich verklebe das Briefkastenschloss von W OLSKI , B OGDAN und denke, es sollten eigentlich seine Augenlider sein. Oder seine Lippen. Oder Zehenzwischenräume. Doch trotz meines terroristischen Akts bleibt jedes Gefühl von Genugtuung aus, als ich mich barfuß zurück in meine Wohnung schleiche.
    Kaum zwei Stunden später, die Funkuhr zeigt 04 : 28 an, wache ich erneut auf, diesmal nicht von einer weiteren intimen Lautattacke Bogdans, sondern aufgeschreckt von einem stechenden Schmerz in meiner Brust. Ich liege da und versuche zu begreifen, was gerade mit mir geschieht. Der Schmerz zieht vom Brustbein bis in beide Schultern und Arme, ein pulsierender elektrischer Stromschlag, doch schlimmer als die Schmerzwelle ist die Panik. Plötzlich denke ich, dass ich nun sterben werde, viel zu jung und ganz allein in diesem hässlichen Plattenbau in Nowa Huta. Und niemand wird es merken. Mein Körper könnte monatelang hier liegen und vor sich hingammeln, ohne dass mich jemand vermisste. Irgendwann, wenn die Mietzahlungen ausbleiben und die Mahnungen nicht beantwortet werden, kommt jemand von der Hausverwaltung, lässt die Tür aufstemmen und die Reste, die meine Raub- und Aasameisen von mir übrig gelassen haben, einige Zahnfüllungen und die Finger- und Fußnägel vielleicht, einsammeln und per UPS meinen Schwestern in Ibb zustellen.
    Ich weiß, ich sollte den Notarzt alarmieren. Es geschieht zwar selten, aber es kommt vor, dass auch Menschen in meinem Alter bereits Probleme mit dem Herzen haben. Bei mir fing es im Grunde ja schon mit zwölf Jahren auf dem Fußballplatz an. Trotzdem bleibe ich regungslos liegen, lausche dem Pulsieren der Schmerzstöße und dem An- und Abschwellen meiner Angst.
Dr. Fuad al-Halawi, Kardiologe
, erinnere ich mich. Aber solch ein schicksalhaftes Zusammentreffen geschieht nur einmal im Leben, wenn überhaupt.
    Vielleicht ist es ja nur psychisch, versuche ich mich zu beruhigen, eine Reaktion auf die Abschiede und Verluste, die ich in den letzten Wochen einzustecken hatte. Brustschmerzen – na und? Hab doch schon Schlimmeres durchgemacht! Im Krankenhaus werden sie nichts Auffälliges finden, zumindest nicht in den Kurven des EKG s. Dann werden sie mich fragen: »Was, glauben Sie, könnte Ihren Schmerz ausgelöst haben? Ihr Herz ist vollkommen in Ordnung.« – Ich zucke ratlos mit dem Schultern.
    Doktor Leszek schaut mich ernst an. Anders als Doktor Fuad glaubt er nicht an die Unausweichlichkeit unseres Schicksals. »Was es sonst an Ursachen geben könnte«, schreibt er, »müssen Sie selbst herausfinden.«
    Ich nicke, tue so, als ob ich verstünde. Ein Alarmzeichen, klar. Rilkes
Torso des Apoll
: Du musst dein Leben ändern! – Für Marsyas ist es dazu natürlich schon zu spät.

40
    Ein fremder Mann liegt in Asis’ Bett. Er trägt die olivgrüne Uniform der Landstreitkräfte. Seine staubigen Stiefel hat er ausgezogen und die obersten Knöpfe seines Uniformhemdes geöffnet.
    Asis steht unschlüssig da und weiß nicht, was er tun soll. Er fühlt sich müde von der langen Fahrt. Auch ist ihm auf den vielen Serpentinen bergab wieder schlecht geworden.
    Der junge Mann in seinem Bett sieht Said ähnlich. Asis hat das Gesicht schon einmal gesehen, wenn auch nicht leibhaftig, sondern nur in schlechter Auflösung auf dem Bildschirm von Saids Rechner. Er weiß, in Wahrheit ist es nicht sein Bett, sondern das des jungen Mannes. Aber Asis hat kein anderes Bett.
    Er nimmt sein Buch vom Nachtschränkchen und setzt sich auf Saids Bett. Er wartet, dass der andere aufwacht. Hat niemand dem Soldaten mitgeteilt, dass er, Asis, jetzt hier wohnt? Gut, der Mann wird sicher nicht lange bleiben. Er ist ja in Sanaa stationiert. Und wenn sein Dienst zu Ende ist? – Er merkt, das Grübeln hat wenig Sinn.
    Judith tritt in einer plötzlichen schlimmen Ahnung vor und entfernt eine Leinwandmütze, die ihm so tief in den Kopf gedrückt ist, dass sie das Gesicht, ja alles bis auf die Schultern verhüllt. Sobald diese Bedeckung weggenommen ist, zeigen das zuckende, rohe Fleisch, die entblößten Adern und Muskeln und all die anderen schauerlichen Zeichen der Sterblichkeit, welche das Abziehen der Haut bloßlegt, dass er skalpiert worden ist, obwohl er noch lebt!
    Diese unerwartete Grausamkeit erschreckt Asis wieder genauso tief wie beim ersten Lesen des Kapitels. Natürlich war schon öfter vom Skalpieren die Rede. Der geliebte Chingachgook hatte bereits mehrfach die Absicht, seinem Gegner den

Weitere Kostenlose Bücher