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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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Skalp zu nehmen, hätte er nur die Gelegenheit zu einem Kampf Mann gegen Mann gefunden. Was es aber heißt, sich diese Trophäe des Sieges anzueignen, erfährt der Leser erst an dieser Stelle, wo Judith und Hetty ihren geschändeten Vater finden.
    Natürlich sind Asis’ Sympathien nach wie vor auf Seiten der Indianer. Doch die Brutalität dieses Rituals gibt ihm zu denken. Nicht über die grundsätzliche Grausamkeit des Krieges denkt er nach, sondern über diese ganz besondere Marter: Wie fühlt es sich an, wenn das Messer über die Stirn und den Nacken einmal um den Kopf fährt und bis auf den Schädelknochen in Haut und Fleisch schneidet? Empfindet man den Schmerz noch, wenn die Hand des Feindes in den Haarschopf greift und das Haar, die Haut und das Fleisch mit einem heftigen Ruck vom Schädeldach reißt? – Asis liegt nicht mehr im Bett, sondern im feuchten welken Laub am Rand der Lichtung, wo sie ihn gestellt haben. Die nackten Knie des Huronen drücken in seinen Brustkorb, dass die Rippen knacken, und halten seinen ganzen Körper am Boden fest. Er sieht die dunklen Augen in dem grellgeschminkten Gesicht des fremden Mannes, sie sind ganz ohne Wut, Hass oder Grausamkeit, er riecht seinen Atem, sein mit den Kriegsfarben bemaltes Gesicht ist ganz nah, ein Geruch nach Elchfett, Birkenrinde und Mangel an Schlaf. Das Messer spürt er kaum, dann aber den Griff in sein Haar, ein kurzes Blitzen in den schmalen schwarzen Augen des Kriegers und am Ende den schnellen, unbarmherzigen Riss, der durch seinen ganzen Körper geht, als würde das Gesicht, die ganze Haut an Brust und Rücken, den Lenden und Beinen bis zu den Fußsohlen mit abgezogen. Er fühlt den Schmerz in jeder Pore, und ein Schauer der Erregung rast von den Haarspitzen bis in die Zehen. Wie hoch wohl die Chancen stehen, den Verlust des eigenen Skalps zu überleben?
    Offenbar ist er eingeschlafen. Er liegt in Saids Bett, als Said ihn weckt, und braucht eine Weile, bis er begreift, warum er hier und nicht in seinem eigenen Bett liegt. Sein eigenes Bett ist leer. Mussa, Saids Bruder, sitzt vor Saids Computer. Er muss schon außerordentlich hoch in Saids Gunst stehen, dass Said ihm erlaubt, seinen Rechner für was auch immer zu benutzen. Vorausgesetzt, er hat seinen kleinen Bruder überhaupt um Erlaubnis gebeten. – Er schaut kurz auf und nickt Asis freundlich zu.
    Der junge Soldat wirkt selbstbewusst und geschmeidig. Wenn das mit der Fußballkarriere nicht geklappt hätte, wäre wohl auch Asis Soldat geworden. Er hatte den Sport und den Kampf immer geliebt, damals, vor dem Ereignis.
    Er wechselt einen fragenden Blick mit Said: »Und wo soll ich heute Nacht schlafen?«
    »Bleib ruhig hier liegen«, antwortet Said. »Ich such mir dann aus, zu wem ich ins Bett krieche«, fügt er augenzwinkernd hinzu.

41
    Mitten in der Nacht schreckt Asis auf. Er spürt andauernde Erschütterungen, wie von einem Gewitter in unmittelbarer Nähe, aber ohne Blitze.
    Said steht nackt am Fenster und schaut auf die Straße hinaus.
    »Nichts zu sehen!«, teilt er Asis mit.
    »Hast du es auch gespürt?«, fragt Asis.
    »Lass uns aufs Dach gehen!«
    Said streift sich eine Hose über. Dann geht er voran und steigt die Treppe zum Dach hinauf.
    Mussa steht am Terrassenrand. Er blickt Richtung Khor Maksar. Von dort erleuchtet ein heller Feuerschein den Nachthimmel. Said hört die Explosionen von Panzerfäusten und Mörsergranaten. Asis spürt sie. Das Dach unter ihren Füßen bebt, das ganze Haus scheint zu schwanken.
    »Ein Angriff auf die Zentrale der Staatssicherheit«, teilt Mussa den beiden Jungen mit.
    Asis erinnert sich, wie er seine Hände an das schwarze, fensterlose Gebäude gehalten hat.
    Die Explosionen und die Gewehrsalven dauern an. Auch auf den benachbarten Häusern haben sich die Bewohner versammelt. Die Straßen hingegen sind menschenleer.
    Asis beginnt zu zittern. Die beiden Brüder nehmen ihn in ihre Mitte und legen ihm ihre Arme um die Schultern.
    Mussa verlässt noch vor Tagesanbruch das Haus. Wahrscheinlich muss er heute noch zu seiner Einheit nach Sanaa zurück, vermutet Asis. Aber er ist zu müde, um nachzufragen.
    In den Tageszeitungen steht kein einziges Wort über die nächtlichen Ereignisse. Vielleicht ist es noch zu früh. Said weckt seinen Rechner aus dem Ruhezustand und geht ins Internet. Er klickt die Webseiten von Al Arabija und Al-Djazeera an. Laut Augenzeugen seien mindestens elf Menschen bei dem Angriff heute Nacht getötet worden, lesen sie auf dem

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