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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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den nächsten Tagen unsere Schule. Und Akram? Soll uns meinetwegen hier unterrichten.

46
    Das erste, was Asis sieht, ist das Transparent, das Ghufran und Mansur gemalt haben und an der Fassade aufhängen wollen. Lächelnd entziffert Asis die Worte:
    ES LEBE DAS HAUS DER POESIE!
    Sie warten vor dem Haus, wirken wie eine Schar verlorener Demonstranten. Mag die Tür auch unverschlossen sein, man bricht nicht einfach in ein fremdes Haus ein, selbst wenn es leersteht.
    Es war Asis’ Idee, nun soll er auch den ersten Schritt tun. Er schiebt das Gitter zur Seite und stößt die Tür auf. Licht von der Straße fällt in den Hausflur. Vor der Treppe in den ersten Stock liegt eine alte Schaumgummimatratze, auf der Matratze ein regungsloser Mann. Er trägt Straßenkleidung. Asis erkennt den Wächter wieder.
    Asis gibt seinen Kameraden ein Zeichen, leise zu sein. Nacheinander steigen sie über den Schlafenden hinweg und schleichen die Treppe hinauf. Hier, im ersten Stock, in zwei Zimmern zur Straße hin, beginnen sie, sich für einen längeren Aufenthalt einzurichten. Niemand hat an einen Besen gedacht. Also schieben sie mit ihren Schuhen die größeren Glasscherben beiseite und breiten ihre Decken aus. Dann spannen Ghufran und Mansur das Transparent zwischen zwei benachbarte Fenster. Und erklären damit das Haus auch nach außen sichtbar für besetzt.
    Was nun? Asis ist dafür, auch hier die Zeit zum Unterricht zu nutzen. Er hat zwei Bände mit Schriften von Nagar Juna mitgebracht. Amir fragt, ob irgendjemand Akram Salah Aiub benachrichtigt habe. Natürlich nicht! Womöglich hätte er gegen die Besetzung Einspruch erhoben. Doch nun wird Amir beauftragt, den Lehrer herzuholen.
    Bevor Asis mit dem Unterricht beginnen kann, taucht der Wächter auf. Entweder hat Amir ihn geweckt, als er das Haus verließ, oder er hat sie oben rumoren gehört. Er wirkt immer noch unausgeschlafen und fährt sie dementsprechend unwirsch an. Er ist nicht mehr als ein Knochengerüst, gerade noch von einem Fetzen Haut zusammengehalten, der am Schädel festklebt und lumpenartig um das Gerippe schlottert. Dabei ist sein Gesicht noch jung, kurzgeschorenes Haar und recht spärlicher Bartflaum am Kinn, das an dünnes Achselhaar erinnert.
    Asis lädt ihn ein, an ihrem Unterricht teilznehmen. Aber der Wächter ist offenkundig nicht an Poesie interessiert. Er droht, die Polizei zu rufen. Als die Schüler nur gleichgültig mit den Schultern zucken, beginnt er zu jammern, er werde seinen Job verlieren, wenn sie nicht gingen. Sie wollten doch nicht, dass er ihretwegen Ärger bekomme!
    Dies ist eine der seltenen Situationen, in der sie anderen, die sich nur taub stellen, überlegen sind. Sie wenden ihre Augen ab und richten ihre Aufmerksamkeit wieder ganz auf Asis.
    »Aden ist ein scheußlicher Fels«, gebärdet Asis, »ohne einen einzigen Grashalm oder einen Tropfen guten Wassers. Man trinkt hier entsalztes Meerwasser. Die Hitze ist ungeheuer groß, vor allem von Juni bis September, den Hundsmonaten, schreibt Nagar Juna an seine Schwester. Und trotzdem will er kurz vor seinem Tod in einem Hospital in Delhi nach Aden zurückkehren.«
    Asis steht mit dem Rücken zum Fenster, seine Mitschüler sitzen oder hocken vor ihm auf dem Boden und sind tatsächlich voller Aufmerksamkeit für das, was er ihnen erzählt.
    So findet Akram Salah Aiub sie vor, als er voller dunkler Vorahnungen mit Amir zu ihnen stößt. Eigentlich hatte er die Absicht, diese unsinnige und gefährliche Aktion sofort abzubrechen und sie zur Schule zu bringen, ehe die Polizei eintrifft. Aber als er sie hier bei ihrem improvisierten Unterricht antrifft, ändert er seine Meinung und lässt Asis seinen Vortrag beenden. Dann sagt er, wenn ihre Aktion Erfolg haben solle, bräuchten sie größere Unterstützung. Ein Dutzend taubstummer Schüler reiche bei Weitem nicht aus, ein Abrisskommando zu stoppen.
    Die Schüler schauen sich ratlos an. Sie kennen niemanden, der sich sonst noch für Poesie interessiert. Sie selbst haben sich vor wenigen Tagen ja auch noch nicht vorstellen können, eines ausländischen Dichters wegen die Schule zu schwänzen, Hausfriedensbruch zu begehen und arme Wächter um Lohn und Brot zu bringen.
    Akram schlägt vor, eine Delegation zur Universität zu schicken und die Studenten zu mobilisieren. Dort werde man wohl noch am ehesten Unterstützung finden. – Ja, ihr Lehrer hat recht. Er kennt sich aus an der Universität, hat bis vor Kurzem dort ja selbst noch herumgehangen. Das

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