Die Laute (German Edition)
es ein Schultag wie jeder andere.
»Was ist ein Gedicht?«, fragt er die Klasse. Die einzigen, die darauf vielleicht eine Antwort gewusst hätten, Amir und Asis, behalten ihre Hände auf dem Pult. Nun wendet Akram sich direkt an Asis und bittet ihn an die Tafel. Er präzisiert seine Frage: »Wann nennen wir einen Text ein Gedicht?«
Asis nimmt seinem Lehrer die Kreide aus der Hand und schreibt, ohne weiter nachzudenken: »Das Haus von Nagar Juna soll in den nächsten Tagen abgerissen werden!« – Sein Lehrer muss doch wissen, was das bedeutet! Er hat ihn schließlich mit Nagar Juna zusammengebracht. Trotzig blickt er Akram an.
Seine Mitschüler verstehen nicht recht, was Asis’ Satz und sein merkwürdiges Verhalten bedeuten. Aber sie spüren, dass sich etwas anbahnt. Die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse ist nun auf den Lehrer und ihren Klassenkameraden gerichtet.
Akram nickt ergeben. Wenn sich seine Schüler schon einmal von sich aus für einen Dichter interessieren, will er die Neugier nicht abwürgen. Er fordert Asis auf, seine Mitschüler darüber zu unterrichten, wer Nagar Juna ist. Und Asis erzählt das, was er über diesen taubstummen indischen Dichter und sein merkwürdiges Leben in Aden weiß. Akram steht am Rand, nahe der Tür, und beobachtet verblüfft, wie Asis’ Gebärden seine Klassenkameraden in ihren Bann ziehen.
Nach und nach begreifen sie: Nagar Juna ist einer von ihnen. Und sein Haus in Crater ist ein Erinnerungsort. Man darf es nicht einfach abreißen. Doch was können sie tun? – Spätestens hier hätte Akram eingreifen müssen. Aber er lässt die Diskussion weiterlaufen. Das Haus eines Dichters zu retten, ist immerhin weniger brisant, als die Erstürmung eines Verlagsgebäudes zu erklären. Außerdem ist er stolz auf seine Schüler.
Doch während er sich noch über die Lebendigkeit des Gesprächs freut, sind seine Schüler bereits bei der Gründung eines Nagar-Juna-Verteidigungskommitees. Zunächst müsse man herausfinden, für wann der Abriss überhaupt geplant sei. Asis will Said darauf ansetzen. Womöglich könne er sich in irgendeinen Verwaltungscomputer hacken und den genauen Termin herausfinden. Und dann?
Das Nagar-Juna-Verteidigungskommitee vertagt die Fortsetzung der Debatte auf den Abend im Café Arwa, direkt gegenüber dem geschlossenen
Hotel June
, dem ehemaligen Wohnsitz Nagar Junas.
In Aden gibt es mehr Teehäuser als Teehausbesucher. Glücklicherweise finden sich genug Müßiggänger, die sie vom Morgen bis zum Abend bevölkern.
Der Tee in Aden ist süßer als in jeder anderen jemenitischen Stadt und wird hier meist mit einem Schuss Büchsenmilch getrunken. Und immer noch wundert sich Asis über die merkwürdige Sitte, den Tee aus der Tasse in die flache Untertasse zu gießen und ihn aus dieser Untertasse zu schlürfen, als brauche er möglichst viel Luft, um sein eigentliches Aroma zu entfalten. Er vermutet, dass die dicke englische Königin diese Sitte nach Aden gebracht hat und ihr zu Ehren deshalb das Denkmal in dem nach ihr benannten Park im Stadtteil Tawahi errichtet wurde, die kleinen dicken Finger gespreizt, als würde sie auf ihnen eine bis zum niedrigen Rand mit Milchtee gefüllte Untertasse balancieren.
Wie auch immer, ein neues Abenteuer beginnt. Alle sind gekommen. Asis weiß, die meisten von ihnen interessieren sich nicht die Bohne für Gedichte, selbst wenn ein Taubstummer sie verfasst hat. Aber das Nagar-Juna-Verteidigungskommitee ist ja auch kein Lesezirkel, sondern hat, wie das Wort schon sagt, etwas mit Krieg zu tun. Da will jeder dabei sein.
Said musste in keinen Computer der Stadtverwaltung eindringen, das Datum des Abrisses steht für alle offen auf der Homepage des Eigentümers, der
National Bank of Aden
. Dagegen Einspruch zu erheben, ist wohl eher aussichtslos.
Ghufran schlägt vor, das Haus zu besetzen. Was werden unsere Eltern sagen? Sie sollen froh sein, dass wir in unserer Freizeit endlich mal etwas Vernünftiges tun. Und was werden wir essen und trinken? Jeder bringt Proviant mit, dazu Decken, Taschenlampen und was man sonst noch braucht. Waffen? Bist du verrückt? Natürlich keine Waffen! Und wie kommen wir ins Haus? Durch die Tür. Sie ist nur angelehnt. Das Schloss ist kaputt. Oder durchs Fenster. Die meisten Scheiben sind doch schon eingeworfen. Und der Wächter? Hat keine Chance. Wir sind in der Überzahl. Und wenn er die Polizei ruft? Rufen wir die Presse! Wann schlagen wir los? Morgen früh! Und was ist mit der Schule? Dies ist in
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