Die Laute (German Edition)
sagen, vermute aber, dass sie ihn um eine Zigarette bitten, denn der Raucher hält ihm den fast zu Ende gerauchten Stummel unter die Nase. Doch der Mann reagiert weder auf die Ansprache noch auf die Zigarettenglut zwei fingerbreit vor seiner Nase, ja er hebt nicht einmal den Kopf, sondern starrt weiterhin auf seine ungeputzten Schuhe oder seine müden Hausfrauenhände im Schoß.
Offenbar halten sie ihn für taub, denn der Raucher tritt nun demonstrativ seine Zigarette aus und schlägt dem Mann auf der Bank mit der rechten Faust vor das linke Ohr. Ein Gehörloser würde sich selbstverständlich nicht so verhalten wie der stumme Mann, aber vielleicht spricht er ja die Sprache der jungen Männer nicht. Oder steht unter Drogen. Oder steckt in einer tiefen Depression und wartet nur noch auf den nächsten einfahrenden Zug, um sich vor den Triebwagen zu werfen. Immerhin ist Weihnachten. Ja, sein ganzes Verhalten hat etwas Selbstmörderisches an sich. Selbst der brutale Schlag vors Ohr reißt ihn nicht aus seiner Regungslosigkeit.
Der Zug rollt zwei Minuten vor seiner im Fahrplan angekündigten Zeit in den Bahnhof ein. Niemand steigt aus, und nur ich steige ein und bleibe noch einen Augenblick an der offenen Wagentür stehen. Die drei Männer am Bahnsteigende scheinen auch noch die letzte Stunde des Heiligen Abends an diesem unwirtlichen Ort verbringen zu wollen. Doch wer weiß, vor was sie hierher geflohen sind.
Die Bahnsteiglampen flackern, jede zweite im hinteren Bereich ist kaputt. Trotzdem reicht das Licht aus, sich wie in einem absichtsvoll schlecht ausgeleuchteten Film Noir zu fühlen. Es fehlen nur die Kameras. Nicht einmal eine der inzwischen doch allgegenwärtigen Überwachungskameras entdecke ich auf dem Bahnsteig.
Während der eine der Cracovianer noch lacht, offenbar nicht über die ausbleibende Reaktion des fremden Mannes, sondern über die vergebliche Mühe seines Kumpels, den Mann mit der billigen Brille zu provozieren, zieht der gekränkte Raucher seine Pistole, womöglich doch keine Gasoder Schreckschuss-, sondern eher eine Signalpistole, aus dem Hosenbund und schiebt dem Mann die Mündung des kurzen, schwarzglänzenden Laufs direkt in die vom Faustschlag gerötete Ohrmuschel.
Das ist Großstadtalltag, sage ich mir. Das passiert jeden Tag. Du kannst es nicht ändern. Keine Chance, dazwischenzugehen, den Helden zu spielen. Du hättest nur die Wahl, selbst zuzuschlagen oder erschlagen zu werden. Manche Situationen sind so, ohne einen dritten Weg, entweder, oder. Wer sich einmischt, ist kein Held, sondern einfach ein Dummkopf. Manche sind nicht zu retten. Und manche retten sich ganz alleine. Jede Einmischung macht es nur komplizierter. Ausländer, Arbeitsloser, Behinderter, Künstler, nicht mal die Polizei wäre auf meiner Seite.
Die Waggontür schließt sich, der Zug fährt schon an, als plötzlich, schneller als ich denken kann, der Mann aus seiner Apathie erwacht und ein Messer in der Hand hält. Woher hat er es so schnell hervorziehen können? Von hier, aus dem rollenden Zug, sieht es so aus, als habe er es dem jungen Burschen vor ihm aus dem Gürtel gezogen. Ich sehe die Klinge nur einmal schwach aufblitzen, dann ist sie bis zum Heft im Bauch des Jungen verschwunden. Der Mann lässt das Messer dort, etwa in Höhe des Bauchnabels, stecken, legt die Hände wieder in den Schoß und starrt auf die abgestoßenen Schuhspitzen.
Der junge Mann schaut verblüfft auf den Messergriff, der knapp über der Messingkoppel seines schwarzen Ledergürtels aus seiner Bomberjacke ragt. Sein Gefährte beginnt zu schreien, als stecke nicht seinem Kameraden, sondern ihm selbst eine Klinge im Leib. Er stützt den Freund, damit er nicht auf den Bahnsteig kippt, nimmt ihm mit der Rechten die Pistole aus der Hand und drückt sie dem Fremden gegen die Schläfe.
Ich wünschte, der Zug würde endlich Fahrt aufnehmen und mich so schnell wie möglich von diesem Bahnsteig forttragen. Aber zunächst einmal rollt der Zug langsam und stetig auf die Szene am Bahnsteigende zu. Der scheinbar reglose Mann vollführt zwei so rasche Gesten, die ich mir, obwohl der Abstand inzwischen nur noch wenige Meter beträgt, wohl mehrfach in Zeitlupe ansehen müsste, um sie genau nachvollziehen zu können. Er greift nach dem Messergriff vor ihm, zieht die Klinge aus dem Bauch des jungen Burschen und stößt sie nun dem Kameraden, der die Pistole an sich genommen hat, in den Leib, blitzschnell, in einer ununterbrochenen Bewegung, wie in einem
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