Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
noch nicht mit Brille gesehen. Er müsse sie nur beim Autofahren tragen, erklärt er, ohne dass ich eine Erklärung verlangt hätte. Mir ist es vollkommen egal, ob seine Augen weit- oder kurzsichtig oder nachtblind sind. – Bei den wenigen gemeinsamen Fahrten jedenfalls hat er bisher nie eine Brille getragen.
    In fünfzehn Minuten sind wir am plac Nowy, wohin ich mit dem Bus und der Straßenbahn eine Stunde gebraucht hätte. Das
Zapiekanka
ist heute Abend fast leer, trotzdem hat Rafał einen Tisch reservieren lassen, während ich unter der Dusche stand. Der Ober zündet die Kerze an, bringt den Wein, die Suppe, den Fisch, das Dessert, nur der Stehgeiger fehlt. Der Tisch füllt sich mit Notizblättern und bekritzelten Servietten, unleugbare Symptome eines angeregten Gesprächs zwischen einem Gehörlosen und einem Hörenden.
    Der wahre Künstler ist passiv. Wer hat das gesagt? Wer auch immer, er hat recht. Der wahre Künstler lässt sich von seinem Werk benutzen, ja missbrauchen, aufzehren, vernichten. Er lauscht, bis ihm die Trommelfelle platzen. Sieht hin, bis er erstarrt. Er nimmt ein Stück Zukunft vorweg. Und bahnt ihr zugleich den Weg. Er selbst ist es, der auf der Strecke bleibt.
    Nicht wir beurteilen die Musik, die Musik beurteilt uns. Ja, ich wage noch einen Schritt weiterzugehen: Nicht ich höre die Musik, die Musik hört mich.
(erste geleerte Flasche Wein)
Gegenwartsmusik ist ohne Vorbild. Woran soll man sie messen? Sie steht oder vielmehr: ereignet sich jenseits des Schönen und Hässlichen, des Meisterhaften und Dilettantischen, des Geschmackvollen und Geschmacklosen. Die moderne Musik überschreitet oder unterläuft sogar die traditionelle Unterscheidung zwischen Klang und Geräusch. Die ehemaligen Gesetze, ein Werk zu beurteilen, haben keine Gültigkeit mehr. Aus Werturteilen sind reine Geschmacksurteile geworden. Doch dort, wo nicht mehr geurteilt werden kann, verliert das Werk jeden Sinn.
    Es herrscht eine heimliche Komplizenschaft zwischen dem Innovationswillen der Kunst und dem Innovationszwang des Marktes. Und trotz aller Kritik wollen wir von ihm geliebt werden. Zum Teufel mit der Moderne!
    Die Verächter der Gegenwartsmusik glauben, es reiche, einfach hören zu können, die Güte der Musik erschließe sich dann unmittelbar und ganz von alleine. Der Rest sei Lärm. Doch wahre Musik braucht Anstrengung. Sie geht nicht unmittelbar ins Ohr. Aber dafür ist sie im tiefsten Sinn demokratisch: Jedem zugänglich und durch eigenes Bemühen erlernbar.
    Demokratisch? Gegenwartsmusik ist durch ihren Wunsch nach unmittelbarer Anschauung ihrem Wesen nach obszön, ja pornografisch. Im Grunde geht es um Inbesitznahme: Der Schöpfer will die Wahrheit ficken!
(zweite geleerte Flasche Wein)
    Kann man wahre von falscher Musik unterscheiden? Schon das Wort ›wahr‹ ist falsch. Wahr ist Musik, wenn in ihr die Quelle ihrer Wahrheit unhörbar, unentdeckt bleibt.
    Die einzige Hoffnung besteht darin, dass die Musik ihren Adressaten verfehlt. Eine verstandene Botschaft kann ebenso tödlich sein wie ein Projektil, das sein Ziel erreicht. Verfehlung ist die einzige Gewähr für ein Weiterleben.
    Musik vernichtet Fiktion. Musik erzeugt Fiktion.
    Wir dürfen nicht vergessen, dass unser begrenztes Leben alles ist, was wir auf dieser Welt besitzen. Unsterblichkeit macht es bereits zu Lebzeiten zu einem Mausoleum.
    Wir sind vereinzelt durch unser Leben. Wir sind eine Gemeinschaft durch unseren Tod.
    Ist Musik ein
Ding
? Hat sie
Substanz
? Das ist die Frage nach dem Wesen unseres Universums, der Leere zwischen den Dingen, die nicht Nichts ist.
    Die Musik entsteht aus einer Liebe zur Stille. Sie ist ein Ausnahmezustand, der erträglich gemacht werden will.
    Sie lebt von der Erwartung, lebt mehr in der Zukunft als in der Gegenwart. Dem Hörenden ist es unmöglich, sein Begehren jemals zu befriedigen, denn ehe es sich erfüllt, ist es schon verhallt.
    Sprechen wir noch von Musik? Oder redet nicht längst der Wein? – Rafał hat sich in den vergangenen Wochen wirklich ernsthaft mit meinen Kompositionen beschäftigt, hat die wenigen Rundfunkaufnahmen und Konzertmitschnitte aufgetrieben und durchgehört, hat die verfügbaren Partituren studiert und vieles davon sogar begriffen. Von seiner Arbeit hingegen kenne ich kaum mehr als seinen Wettbewerbsbeitrag. Trotzdem wage ich die eine oder andere kritische Anmerkung. Und Rafał nickt ohne eine Spur von Kränkung.
    »Endlich einmal jemand, der mich durchschaut«, schreibt er, »und ruft:

Weitere Kostenlose Bücher