Die Laute (German Edition)
frohgestimmt, vielleicht sogar glücklich. Dabei musste Hafis ihn geradezu überreden mitzukommen. Asis könnte nicht sagen, ob es der Reisegefährte und das Reiseziel ist, die ihn so heiter stimmen, oder einfach nur das Verlassen Adens und die Bewegung fort aus der Kraterstadt. Er wüsste nicht einmal genau zu berichten, was sie in den Stunden im Sammeltaxi gesehen und erlebt haben. Im Grunde war die Fahrt eher eintönig, dicht aneinandergedrängt zwischen sieben weiteren Mitreisenden, sodass Asis nicht einmal aus dem Fenster schauen konnte.
Zweimal mussten sie das Taxi wechseln. Für die letzte Etappe nimmt sie ein Pritschenwagen mit, wo sie zwischen Reissäcken auf der Ladefläche kauern. Hungrig und vollkommen eingestaubt erreichen sie nach fast acht Stunden Fahrt das abgelegene Oasendorf im Wadi Dschauda.
Asis hat erwartet, dass sie sofort zu Hafis’ Elternhaus gehen. Er ist müde, würde sich gerne ausruhen und vor allem waschen. Stattdessen kündigt Hafis an, sie müssten zunächst den Scheich begrüßen.
»Die Menschen hier legen größten Wert auf respektvolle Umgangsformen«, erklärt er Asis. »Außerdem ist der Scheich Fremden gegenüber ziemlich misstrauisch.« – Der letzte Hinweis ermuntert Asis nicht gerade, sein Ruhe- und Reinlichkeitsbedürfnis hinter die Erfordernisse der Gastfreundschaft zurückzustellen. Unsicher folgt er Hafis zu einem der steinernen und im Dunkeln recht abweisend und bedrohlich wirkenden Wohntürme.
Einer der Söhne des Scheichs empfängt sie an der Tür und führt sie eine schier unendliche Anzahl ungleicher Stufen hinauf in den
Mafradsch
, den Gastraum im obersten Stockwerk des Hauses. Gab es auf dem Weg hinauf nur schmale, schießschartenartige Schlitze in den Außenmauern, so besteht dieser Raum nach Osten, Süden und Westen hin fast nur aus großen holzgerahmten Fenstern, über die sich Bögen aus bunten Glasscheiben spannen, die, wenn die Sonne hindurchscheint, sicher ein warmes, den Augen angenehmes Licht verbreiten.
Nun sitzt ein Dutzend Männer hier versammelt, als hätten sie die jungen Besucher aus Aden bereits erwartet. Hafis und Asis begrüßen jeden der Männer der Reihe nach. Alle beherrschen die Gebärdensprache, obgleich Asis sich nicht vorstellen kann, dass alle diese Männer, vermutlich die Dorfältesten, taub sein sollten. Aber er spürt keinerlei Unterschied in der Geschmeidigkeit der Gesten.
Der Scheich bittet die beiden Jungen, neben ihm Platz zu nehmen. Der Raum, der das ganze obere Stockwerk des Hauses einnimmt, ist vollständig mit Teppichen ausgelegt. An den Wänden befinden sich schmale Strohmatratzen und Sitzkissen. Es würde hier mühelos die dreifache Anzahl von Menschen Platz finden. – Asis weiß, dass es sich bei der Einladung des Scheichs um eine besondere Auszeichnung handelt. Auch wenn niemand es genau benennen könnte, ja, der eine oder andere es vielleicht sogar leugnen würde, gibt es doch eine unausgesprochene Sitzordnung, in die sich jeder, seinem Stand und Ansehen nach, fügt und die der Gemeinschaft erst dann in ihrer ganzen Schärfe bewusst würde, wenn jemand gegen sie verstieße. – Aber hier scheint niemand die Billigkeit der Auszeichnung des Scheichs anzuzweifeln, die beiden Gäste linker und rechter Hand von sich zu platzieren. Und ein nicht unbeträchtlicher Teil von Asis’ anfänglicher Unsicherheit löst sich in dieser gastfreundlichen Atmosphäre rasch in Wohlgefallen auf.
Scheich Abdul Rahman ist für seine mehr als siebzig Jahre immer noch ein kräftiger Mann. Mit geradem Rücken sitzt er da, die Arme und Beine muskulös, die Zähne, soweit Asis sie sehen kann, zwar zuckerbraun, aber vollständig, und das Gesicht sonnenverbrannt, als arbeite er immer noch Tag für Tag bei den Herden oder im Palmgarten.
Der Junge, der ihnen geöffnet hat, bringt getrocknete Datteln und Zitronenlimonade. Die Männer belästigen ihre Gäste nicht direkt mit Fragen, sondern setzen ganz selbstverständlich ihr Gespräch fort, in dem sie immer mal wieder kleine Pausen machen und den beiden Jungen Gelegenheit geben, sich einzubringen.
»Probleme gibt es erst«, gebärdet der Scheich, an niemanden direkt gewandt, »seitdem in Am Hadidah eine staatliche Schule gebaut wurde. Alle Lehrer sind Hörende von außerhalb!« – Die anderen Männer nicken zustimmend.
»Deswegen werden junge Leute wie unser Hafis nun gezwungen, das Dorf zu verlassen und die Taubstummenschule in Aden zu besuchen.« – Alle blicken nun zu Hafis, der aber, so
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