Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
Bibliothek befinden. Aber auch dann verlässt er den Raum noch nicht. Er denkt an den Mann, der hier übernachtet, sich hier vielleicht sogar versteckt hat. Ob Ali in der Zwischenzeit weiteren Fremden Unterschlupf gewährte? Asis wirft einen prüfenden Blick auf den großen Nussbaumschreibtisch des Zollinspektors, der gewiss noch aus der britischen Mandatszeit stammt, denn ein so schweres und reich verziertes Möbelstück hat er noch in keiner einheimischen Tischlerei gesehen.
    Der Schreibtisch ist mit offiziellen Dokumenten und handbeschriebenen Notizzetteln übersät, trotzdem scheint es eine gewisse Ordnung in dem vordergründigen Chaos zu geben. Deshalb rührt Asis nichts an, sondern überfliegt die Papiere nur, ohne irgendetwas für einen Zollinspektor oder Buchliebhaber Ungewöhnliches zu entdecken. Aus einem geöffneten Umschlag lugt ein Päckchen Rialnoten. Auch das muss noch nichts Verdächtiges bedeuten.
    Asis weiß nicht, was in ihn fährt. Nie zuvor hat er, soweit er sich erinnern kann, etwas an sich genommen, was ihm nicht gehörte. Nun greift dieser Fremde, Unbekannte in ihm nach dem Umschlag, zählt die Geldscheine, eine ungrade, offenbar zufällige Anzahl, zieht einen Schein aus dem Bündel und steckt ihn ein. Dann klemmt er sich Conrads
Lord Jim
unter den Arm und verlässt die Bibliothek.
    Er versucht, diese kleine Untat so rasch wie möglich aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Aber der Diebstahl hat ihn auf eine geradezu unheimliche Weise erregt. Er weiß, dass er ein Unrecht begangen hat, ja, glaubt man der Religion, sogar ein Verbrechen, und in seinem Fall zweifellos ein unverzeihliches, weil er es an seinem Wohltäter begangen hat. Trotzdem spürt er kein Schuldgefühl, keine Spur von schlechtem Gewissen, wie er überhaupt seit Ghufrans Tod kaum noch etwas empfindet, allenfalls ein völlig unangebrachtes Gefühl von – Genugtuung, als sei mit seinem Diebstahl jemandem eine gerechte Strafe zugefügt worden.
    Er braucht das Geld nicht. Seit Längerem arbeitet er vor Schulbeginn in einer Bäckerei. Er legt den Schein ins Buch, das er gerade liest, und vergisst ihn dort. Trotzdem setzt er bei jedem der folgenden Bibliotheksbesuche seine Diebstähle fort. Bei der Rückgabe von
Lord Jim
liegt kein offener Briefumschlag mit Geld herum. Aber in einer der Schubladen, die er bei seiner ersten Inspektion gemieden hat, findet er ein halbes Dutzend achtlos hineingeworfener Banknoten, und wieder fischt er, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, was er gerade tut, einen Geldschein heraus, diesmal den mit dem höchsten Wert, lässt ihn zwischen den Seiten von
Der Nigger auf der Narcissus
verschwinden und verlässt nahezu heiter den großen, dämmrigen Raum.
    Vielleicht ist es ja diese Heiterkeit, verbunden mit einem leichten Zittern der Knie, einem raschen Puls und einem Anflug von Schwindel, die ihn schon nach den ersten Taten süchtig macht. Und trotzdem wäre womöglich jetzt noch alles unentdeckt geblieben, hätten seine Diebstähle sich nicht, wie jede Sucht, weiter ausgebreitet und sich nur auf die vom Rhythmus des Lesens bestimmten Besuche in der Bibliothek beschränkt. Aber dieser Fremde, Unbekannte in ihm drängt ihn zur nächsten, noch hässlicheren Tat: Eines Morgens, als Said nach einer halben Nacht vor seinem Computer wie narkotisiert im Bett liegt und sich auch durch mehrfaches Rütteln nicht wecken lässt, durchsucht Asis die Taschen seines Zimmergefährten und nimmt eine auffällig hohe Menge von Scheinen und Münzen an sich, dazu einen Bleistiftanspitzer mit Kompassnadel, eher ein Kinderspielzeug als ein Wertgegenstand, und einen kleinen Schlüssel, von dem Asis gar nicht weiß, zu welchem Schloss er gehört. Sobald er ihr gemeinsames Zimmer verlassen hat, lässt er die Beute dieses Raubzugs gleichgültig in seine Schultasche gleiten.
    Er hat keine Ahnung, warum er nun sogar seinen Freund bestiehlt. Er spürt nichts mehr von der anfänglichen Heiterkeit. Und selbst sie wäre eine solche Tat nicht wert. Doch kaum ist er aus dem Haus, verblasst auch dieser Diebstahl wie eine Zeitungsnotiz, als habe ein ganz anderer diese Tat begangen.

50
    Sie erreichen das Dorf am frühen Abend. Es ist bereits dunkel, ein Viertelmond liegt wie eine Kufe auf dem kahlen Bergrücken, der Geruch nach brennendem Holz aus den Herden erfüllt die Luft zwischen den mächtigen Wohntürmen.
    Auf der Fahrt mit Hafis in sein Heimatdorf Am Hadidah ist Asis zum ersten Mal seit jener Geschichte mit Ghufran ein wenig

Weitere Kostenlose Bücher