Die Laute (German Edition)
Seht doch, der Kaiser ist ja nackt!«
Ich stimme in sein Gelächter ein, ein eher stummes, körperliches Gebärdengelächter, und stoße, ungeübt wie ich im Lachen inzwischen bin, die schon fast heruntergebrannte Kerze um, und auch über diese Ungeschicklichkeit lachen wir noch, als in wenigen Sekunden bereits unser Zettelberg und die bekritzelten Papierservietten, dann das weiße Leinentischtuch und die Strohblumen und das Fässchen mit den Zahnstochern und das Holzfurnier des Tisches in Flammen stehen und wir, anstatt zu löschen, uns nur noch lachend in Sicherheit bringen.
Der besonnene Kellner verhindert Schlimmeres und wirft einen alten vergessenen Wintermantel über die Flammen, sodass es bei dem einen brennenden Tisch an diesem Weihnachtsabend bleibt.
Ich will nicht, dass er mich nach Hause fährt. Ich erkläre ihm, dass ich die Zeit des Heimwegs für mich brauche, um mich ein wenig auszulüften und wohl auch auszunüchtern. Er versteht. Natürlich versteht er. Nur ich verstehe nicht.
Ich spaziere quer durch die verlassene Altstadt bis nach Lobzow. Von hier fährt ein Zug bis zum Hauptbahnhof.
Auch er hätte seinen Wagen besser stehen lassen und zu Fuß gehen sollen. Aber was geht mich das an? Der Bahnsteig ist lang, irgendwann einmal für Reise- und Expresszüge gebaut. Nun halten hier nur noch kurze Regionalzüge und Schienenbusse. Die Hälfte des Bahnsteigs liegt ungenutzt im Dunkeln.
Heute Nacht ist der Bahnsteig menschenleer. Der Zehnuhrzug ist gerade weg, die nächste Bahn kommt erst in einer Stunde. Heilig-Abend-Notverkehr.
Es ist eher Zufall, dass ich den Mann entdecke. Er sitzt zusammengekauert auf der verwitterten Holzbank im dunklen Abschnitt des Bahnsteigs. Er trägt trotz der Kälte nur einen grauen, zerschlissenen Anzug. Auf der Nase eine dickglasige Brille, ein billiges schwarzes Kassengestell, ohne die ich ihn wohl gleich erkannt hätte.
Ich bleibe im beleuchteten Plattformbereich, halte größtmöglichen Abstand ein, während ich an der Bahnsteigkante entlangbalanciere, um mich warm zu halten. Starre auf die Bahngleise mit ihrer silberglänzenden Radlauffläche und dem rostzerfressenen Rumpf. Im graurostroten Schotter Mäuse mit graurostrotem Fell, die man zwischen den Steinen nur entdeckt, wenn sie sich bewegen. Je länger ich ins Gleisbett starre, desto mehr finde ich von ihnen, wie sie an Zigarettenstummeln schnüffeln, hartgefrorene Kaugummis anknabbern oder fettige Chipstüten auslecken.
Zwei junge Männer betreten die Plattform. Die Haare streichholzkurz geschnitten, olivgrüne Bomberjacken, blankpolierte schwarze Stiefel, die Schals blau und weiß, die Trikotfarben
Cracovias
. Jeder hält eine geöffnete Dose Heilig-Abend-Bier in der Hand. Einem von ihnen klemmt eine glimmende Zigarette zwischen den blaugefrorenen Lippen, obwohl das Rauchen im Bahnhofsbereich verboten ist. Aber irgendwo müssen die Kippen im Gleisbett ja herkommen.
Sie starren mich unverhohlen an, rufen mir etwas zu. Ich bin geneigt, ›Frohe Weihnachten‹ zu verstehen und nicke verbindlich. Dann starre ich mit ganz und gar ausdrucksloser Miene wieder ins Gleisbett vor mir. Einer von ihnen schiebt seine Bomberjacke über den Gürtel hinauf. Zwischen Militärkoppel und Cracovia-T-Shirt entdecken ich aus den Augenwinkel einen mattschwarzen Pistolengriff. Der Junge grinst. Angeber, denke ich, ohne mir meinen Gedanken anmerken zu lassen, das ist doch nur eine Tränengaspistole!
Ich trete von der Bahnsteigkante zurück, ziehe den Reißverschluss meiner abgewetzten Lederjacke auf, greife mit einer bedächtigen Bewegung in die Innentasche und ziehe langsam das kleine leinengebundene Bändchen mit hundert Haikus von Bâshi hervor. Dann setze ich mich auf eine Bank direkt unter einer noch funktionierenden Peitschenleuchte und konzentriere mich auf meine Lektüre.
Der Revolverheld trinkt seine Büchse in einem Zug leer, presst sie langsam mit einer Hand zusammen, als handle es sich um den Kopf eines Neugeborenen, holt weit aus und schleudert das zerknüllte Weißblech in meine Richtung. Es landet müde im Gleisbett. Ich zucke mit keiner Wimper, und selbst die Schottermäuse heben nur kurz ihre Näschen und widmen sich dann wieder ohne jede Unruhe ihren Geschäften.
Entweder scheuen sie das Licht oder fühlen sich von Bâshi eingeschüchtert. Jedenfalls schlendern sie zum stillgelegten Teil des Bahnsteigs, auf den regungslosen Mann im Sommeranzug zu. Sie sprechen den Mann an, natürlich verstehe ich nicht, was sie
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