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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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aufzustehen.
    Eine anonyme Mail im Ordner
Unbekannt
: »Räum endlich auf!« Absender: tokio.shot. – Nein, das kann keine Nachricht von Rafał sein. Für anonyme Botschaften, und dann noch in dieser plumpen und direkten Art, ist er einfach nicht der Typ. Doch wer dann? Nachbarn, die mir nachspionieren? Irgendein Spaßvogel, der mich gar nicht kennt? Nein, dafür ist die Aufforderung zu treffend. Der Absender weiß offenbar genug von mir, um mit drei Worten meine Lage präzise zu beschreiben.
    Ich markiere sie als Spam, und ab mit ihr in den Mülleimer!
    Ich müsste meinem Alltag endlich einen Rhythmus zurückgeben, ohne ständiges Grübeln und Infragestellen, müsste wenigstens meine Oper zu einem Ende bringen. Mehr kann ich nicht tun.
    Hilft das Hineintauchen in Kindheit und Jugend? Nein, nicht wirklich. Zumindest erklärt es nichts. Die Gegenwart ist immer und überall sinnlos, wenn man über sie nachzugrübeln beginnt. Und wir ertragen sie nur, wenn wir vor lauter Betriebsamkeit gar nicht erst zum Nachdenken kommen.
    Gabe und Fluch sind dasselbe. Ein Blitz trifft uns, verbrennt uns und macht die Brandstelle empfindlich. Verletzungen sensibilisieren uns. Unsere Sensibilität macht uns verletzlich. Kränkungen stürzen uns in Schwermut und Depression. Jede Depression ruft alle vorangegangenen Kränkungen wieder wach. Wir können nicht vergessen. Und wenn wir es könnten, würden wir auch nicht glücklicher sein, sondern uns genauso miserabel fühlen, doch ohne zu wissen warum.
    Alle diese Strategien des sich Zerstreuens, des Verdrängens und sich Taubstellens kosten Kraft. Kraft, die man aus der Zerstreuung zieht, der Geselligkeit, den Besäufnissen, den nichtssagenden Gesprächen, den Gelegenheitsficks. – Wo sind meine Antidepressiva?
    Die Frauen hier sind anders als in meiner Heimat. Nicht unbedingt alle so autistisch wie Cześka, aber doch auf eine mich lähmende Art passiv. Sie sind unverschleiert, ja, stellen sich aus, aber mehr tun sie nicht. Sie warten ab. Sie glauben, ihre schiere Verfügbarkeit müsse genügen. Anstatt Energie zu geben, fordern sie Energie. Ich bin zu müde, zu bedürftig für diese Frauen. Sie wollen etwas geboten bekommen, das ich ihnen nicht bieten kann.
    Dieses ganze Land ist ein wenig wie sie, weiblich, passiv, bedürftig, müde. Ich bleibe im Bett und warte darauf, dass etwas passiert. Oder dass es Abend wird und ich wenigstens zur Arbeit zu gehen gezwungen bin.
    Um mit Said zu chatten, ist es zu früh. In Bridgeport herrscht noch tiefe Nacht. Muss bis zum Mittag warten. Wenn sich Rafał wenigstens meldete! Unser gemeinsamer Ausflug liegt nun schon über eine Woche zurück.
    Natürlich, ich hätte nicht mitfahren müssen. Aber nun lebe ich schon über zehn Jahre hier und kenne nichts anderes als Nowa Huta, Krakau und den Flughafen von Warschau. Manch einer würde sagen, damit kenne man bereits ganz Polen. Und ich könnte nicht einmal widersprechen.
    Sein Vorschlag, mit mir in die Karpaten zu fahren, kam vollkommen überraschend.
Karpaten
, ein Wort, das nach Wildnis, Abgeschiedenheit und Einsamkeit klingt, so wie
Rub al-Khali
, aber viel weiter entfernt, obwohl sie viel näher liegen. Bei Föhn kann man die schroffen Berggipfel von Krakaus Hügeln aus sehen. – Gut, wirklich überraschend kam die Einladung nicht.
    Am Morgen des Aufbruchs dann ein grauer Hüttenwerkshimmel, sodass man gar nicht erst aufstehen will. Und vor allem nicht vor die Tür. Das ist alles andere als ein Ausflugswetter! Am Vortag hat noch die Sonne geschienen, sodass ich leichtsinnigerweise zugestimmt habe. Und nun hängen die Wolken so tief, dass ich nur noch in Ruhe gelassen werden will.
    Das gab es in Aden nicht, diese täglichen Wetterwechsel. Es gab im Grunde immer nur dasselbe feuchtheiße Wetter, im Sommer ein wenig feuchter und heißer als im Winter, doch in einem sanften, kaum merklichen Übergang. Nie regnet es dort, nie ist der Himmel vollkommen wolkenlos.
    Hier muss ich mitten am Tag das Licht anschalten. Aber das hellt meine Stimmung auch nicht auf. Das einzige, was diesen Tag noch retten könnte, wäre die Weiterarbeit an meiner Oper. Begreife plötzlich nicht mehr, warum ich zugesagt habe.
    Ich dusche zum zweiten Mal an diesem Morgen. Habe das Gefühl, ich werde den Geruch nach verbranntem Fett und Schweinefleisch aus dem
Cao Dai
gar nicht mehr los. – Das Wasser schmeckt hier anders als in Aden, weniger salzig, mehr nach Chlor und Metall. Da hilft selbst das Abkochen nicht.
    Rafał ist

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