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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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– Varèse, Schönberg – Kandinsky, Webern – Mondrian, Picasso – Strawinsky …«
    »Das sind ästhetische Aufbrüche innerhalb einer Epoche. Gehst du ins Detail des Handwerks, finden die Parallelen rasch ihre Grenzen. Musik reflektiert zunächst und vor allem Musik.«
    Ich hänge alle schon skizzierten Teile der Komposition an eine Leine, die ich quer durch mein Arbeitszimmer gespannt habe. Jeder Akt hat seine eigene Farbe, von Karfreitagsrot über Pfingstorange, Fronleichnamsgelb und Sonntagsgrün zu Martinsblau und Allerseelenviolett.
    »Das Dogma der Moderne lautet: Keine Wiederholungen!«, fährt Adam fort. »Aber unser Klangerleben braucht Wiederholungen und Variationen. Nicht von ungefähr klingen viele Gegenwartskompositionen, meine mit eingeschlossen, skizzenhaft, blutleer und fleischlos. Ja, manche
klingen
nicht einmal.«
    Ich bleibe beim Verzicht auf das traditionelle Notationssystem. Die Fläche, die liniert war, ist plötzlich leer. Tonhöhen und -längen sind durch Entfernungen definiert, die das Auge oder die Intuition des Interpreten abzuschätzen haben. Da unser Auge die Entfernungen nur relativ wahrzunehmen vermag, gibt es einen großen Interpretationsspielraum. Statt Linien finden sich Aktionsfelder. Die Tonhöhe wird von unten nach oben gelesen, die Zeit von links nach rechts, die Intensität des Ereignisses wird durch die Farbe des Feldes gekennzeichnet.
    Leere Räume sind interpretationsbedürftige Objekte.
    »Du erinnerst dich vielleicht an meine Einteilung von Komponisten und Werken in drei Kategorien. In der ersten finden sich Stücke, die geschrieben worden sind, um den Zuhörern zu gefallen. Das ist nicht abwertend gemeint! Die zweite Kategorie enthält die Stücke, die vor allem die Virtuosen, die Musiker und die geschulten Zuhörer beglücken sollen. – Die Musikgeschichte liefert größtenteils Mischformen zwischen diesen beiden Kategorien.
    Die dritte Kategorie hat es früher nicht gegeben, sondern ist eine typische Erscheinung der Moderne: Kompositionen, die hauptsächlich andere Komponisten interessieren und beeindrucken sollen.«
    »Und meine Oper zählst du dazu?«
    »Zumindest läuft sie Gefahr, einmal dazugezählt zu werden.«
    Am Schluss des Werks fällt eine Tür zu, und ein Auto fährt davon, eine realistische Geste in musikalischer Form, allein von Orchesterinstrumenten ausgeführt.
    »Woran erkenne ich, ob ein Einfall brauchbar ist, Adam?«
    Doch Adam antwortet nicht. Plötzlich fällt sein Gesicht zusammen, wie ein Zelt zusammenbricht.
    Während ich mit Rafał in Zakopane war, ist er im Wojskowy-Szpital gestorben, ohne dass ich ihn dort auch nur ein einziges Mal besucht hätte.
    Ein einsamer Morgen. Ein weiterer Tag, den ich im Bett verbringe. Verlasse es nur, um kurz ins Bad oder in die Küche zu gehen. Sehe niemanden, spreche mit niemandem, liege da und tue nichts. Bin nicht müde, schließe nicht die Augen. Habe bereits zuviel geschlafen. Schlafe kaum noch eine Nacht durch. Träume viel und wild, verrücktes, krankes Zeug. Am Anfang habe ich mich noch in den Schlaf masturbiert. Oder in den Tag. Aber nun bleiben die Phantasien aus. Alles in mir fühlt sich ausgetrocknet, staubig und wund an.
    Wo ist der Lärm, der mich aufstört? Die Erschütterungen, die Vibrationen, das Erbeben, Erschrecken und Herausgerissenwerden? Als hätten sich alle miteinander verschworen, bleiben nun selbst die Belästigungen aus. Vergessen von meinen Nachbarn, Bogdan, Jasmine, Persil, die Witwe Szymborska. Oder zurückgelassen. Ist dieses Haus überhaupt noch bewohnt? Es scheint vollkommen leblos und erschütterungsfrei. Vielleicht bin ich der letzte Mieter. Bei der Evakuierung übersehen. Und morgen früh rücken die Abbruchbagger an, und ich merke es erst, wenn die Decke über mir einstürzt.
    Selbst Rafał lässt sich nicht mehr blicken. Seit wann macht es mir was aus? Früher war ich mir selbst genug. Es reichte zu komponieren. Andere Menschen haben in der Regel nur gestört.
    Doch nun kommt es mir vor, als sei ich mir selber abhanden gekommen. Niemand ist mehr da, auch ich nicht. Niemand der lärmt. Niemand, der zuhört.
    Das Bett ist warm, ich muss mich nicht bewegen. Um mich herum Papier und Bleistift, eine Tasse Tee und Rafałs Laptop. Sauber. Habe ihn inzwischen mit meinen Programmen und Dateien gefüllt. Doch mit dem Diebstahl meiner ersten Entwürfe scheint man mir auch die Motivation geraubt zu haben. Ich liege nicht im Bett, um zu arbeiten, sondern weil es keinen Grund gibt

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