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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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mitten im Instrument, im Herzen des Klangs, der mich nicht nur umhüllt, sondern aus mir selbst zu dringen scheint.
    Rafał legt sich, ohne Rücksicht auf seine helle Sommerkleidung, neben mich und schließt ebenfalls die Augen. Und für einen Moment erliege ich der Illusion, wir empfänden womöglich dasselbe.
    Rafał kennt einen Pfad hinunter zum Auffangbecken. Es dämmert bereits, und wir haben noch einen langen Rückweg vor uns. Aber ich folge ihm widerspruchslos, kann mich von dieser wilden, barbarischen Sinfonie des Wassers nicht lösen. Mit jedem Schritt abwärts ändert sich der Klang, die Vielzahl der Klänge, und als wir den Talgrund erreichen, klingt das Rauschen noch tiefer und elementarer.
    Rafał streicht mit der Hand sanft über die Wasserfläche des Teichs, dann beginnt er, sich auszukleiden.
    »Was machst du?«
    »Ich nehme ein kleines Bad. Das mache ich immer, wenn ich hier bin.«
    »Es ist erst März. Das Wasser ist doch viel zu kalt.«
    »Ja, Schmelzwasser von den Berggipfeln. Willst du nicht auch einmal hineintauchen?«
    »Und mir die Eier abfrieren? Nein, danke. Außerdem habe ich keine Badehose dabei.«
    Rafał lächelt. »Keine Angst, hier sind wir ungestört.«
    Er zieht sich weiter aus, bis er vollständig nackt dasteht. Wen sollte es auch stören außer mir? Wir sind hier ganz allein in dieser Rafałschen Idylle, eiskalt und vollkommen wie alle Orte, Dinge und Unternehmungen, die Rafał liebt. Nackt läuft er über das schädelgraue Gestein und springt in das eisblaue Wasser, nicht schamlos nackt, sondern mit der Anmut eines antiken Olympioniken. Er taucht vollständig unter, und für mehrere Sekunden sind nur weiße Schaumkrönchen an der Stelle zu sehen, wo er im Wasser verschwunden ist.
    In der arabischen Welt zeigt man sich nicht nackt, rechtfertige ich meine Zurückhaltung. Bagdad und Athen sind entgegengesetzte und unvereinbare Kulturen. Athen will von allem den Schleier ziehen, will alles nackt und wahr und geheimnislos betrachten, selbst auf die Gefahr hin, am Ende enttäuscht zu sein.
    Wir Araber sind uns der Enttäuschung sicher! Sie gehört zu unserem Leben wie der allmorgendliche Bohneneintopf. Nur der Schleier erlaubt es, uns weiter Illusionen zu machen. Wir schämen uns nicht unserer Nacktheit, wir schämen uns unserer Geheimnislosigkeit.
    Nicht die Wahrheit ist uns das Wichtigste im Leben. Sie würde uns jeglicher Hoffnung berauben, ja sie würde uns töten. Wir verhüllen und verbergen selbst da, wo es nichts zu verbergen gibt. Damit retten wir uns vor dem Wissen.
    Wie sollte Rafał das verstehen? Er lacht ungezwungen wie ein Kind, als er wieder auftaucht, nach diesen wenigen Sekunden schon so eisblau wie das Wasser, und auf die Felsen klettert. Und für einen Augenblick wünschte ich, ich dürfte wie er vollkommen nackt in dieses schäumende Eiswasser tauchen, nackt wie bei meiner Geburt. Aber dazu müsste ich ganz allein sein. Und selbst dann wäre ich mir nicht sicher, ob der Asis, der sich ausgelassen ins Wasser stürzt, den Asis, der zuschaut, vergessen kann.
    Er streift Hemd und Hose direkt über die noch nasse Haut. Dann wirft er einen Blick auf mich, stutzt, als würde er mich gerade erst entdecken, und gebärdet: »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein äußerst attraktiver junger Mann bist?« – In der Grammatik der Gebärdensprache sieht das alles wesentlich prosaischer aus als aufgeschrieben:
Jemand du
(Fragemimik)
sagen du Mann jung
(Bestätigungsmimik)
anziehend aussehen
. Aber es reicht, um die Nähe, die sich im Verlauf dieses Tages zwischen uns hergestellt hat, mit einem Satz wieder zu zerstören.
    »Ich will von diesem Unsinn nichts wissen!«, gebärde ich schroff zurück.
    Nun schaut er mich ernst an. »Weißt du, wie ich dich in meinen Gedanken nenne, Asis?« – Sicher erwartet er keine Antwort. Trotzdem macht er eine kleine Pause, ehe er fortfährt: »Ich nenne dich meinen verletzten Krieger.«
    Ich habe es ja von Anfang an befürchtet. Ich wünsche mich nur noch fort von diesem Ort, von Rafał, weit fort und allein in meinen eigenen vier Wänden.
    »Müssen wir uns nicht langsam auf den Rückweg machen?«, frage ich.
    »Ich habe uns zwei Hotelzimmer in Zakopane reservieren lassen«, erwidert er.
    Es ist bereits dunkel, als wir in Zakopane eintreffen, sodass ich an diesem Abend von dem berühmten Skiort nicht viel sehe. Es liegt kaum noch Schnee auf den Berggipfeln, der Winter in diesem Jahr war viel zu warm. Auf der Straße sehe ich nur ältere

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