Die Laute (German Edition)
Geste bestätigen. Fast ist es mir schon ein Zuviel an Harmonie, doch Rafał wird sicher die richtige Gebärde finden, sie wieder zu zerstören.
Ich schaue auf den Fluss oder auf die Wälder. Irgendwann fallen mir die Augen zu, aber ich schlafe nicht. Eine tiefe innere Unruhe verbietet mir einzuschlafen.
Plötzlich sind wir in den Bergen, keine sanften Hügel und Erhebungen, sondern wahre, hohe, abweisende Berge, die uns auf unser echtes, das heißt bescheidenes Maß zusammenschrumpfen lassen. Hier ist die Landschaft nicht mehr Dekoration unserer Sehnsucht, hier zeigt sie uns unsere Grenzen auf.
Ich befürchte, dass mir in den engen Haarnadelkurven wieder einmal schlecht werden könnte, und Rafał, der das zu spüren scheint, fordert mich auf, nicht aus den Seitenfenstern zu schauen, sondern auf die Straße vor uns zu achten.
Ich beobachte ihn. Schon am Abend des Wettbewerbs habe ich ihn beobachtet. Außer unserer Liebe zur Musik verbindet uns nichts. Mag Rafałs Verhalten in meinen Augen auch sonderbar wirken, ich sehe ihm an, dass er sich selbst nicht als sonderbar empfindet.
Anderen Menschen gegenüber zeichnet ihn ein gewisser Hochmut oder zumindest eine große Selbstgewissheit aus. Mir gegenüber ist jeder Zug von Überheblichkeit verschwunden. Ja, ich spüre sogar eine leichte Unsicherheit. Er beobachtet mich, aber anders, als ich ihn beobachte, aufmerksam und eher besorgt als misstrauisch. Ich versuche, gleichgültig zu bleiben.
Obwohl ich kaum etwas gefrühstückt habe, muss ich ihn bitten, auf dem sandigen Seitenstreifen zu halten, damit ich mich nicht gerade auf die weinroten Ledersitze oder das hölzerne Armaturenbrett übergebe.
Ich weiß nicht, auf was in mir er reagiert. Ich schreibe mir ein eher mittelmäßiges Aussehen zu. Aber vielleicht reicht schon das Schweigen, einen ungeheueren Raum für Phantasien und Projektionen zu eröffnen. Nichts ist desillusionierender, als wenn ein Mensch plötzlich den Mund öffnet und zu reden beginnt. Mit jedem Wort bröckelt die Vorstellung, die man sich aus der Ferne von ihm gemacht hat, und nach einem Abend voller Geschwätz bleiben nur Trümmer.
Im Allgemeinen lassen die Menschen mich in Ruhe. Offenbar strahle ich etwas Abweisendes aus oder komme ihnen unheimlich vor, weil ich mich nicht auf dieselbe Art wie sie im Raum bewege.
Rafał hingegen wird bemerkt, bewundert und beneidet. Ohne in Modejournalen blättern zu müssen, weiß er, was man zu welchem Anlass trägt, wie man lächelt, worüber man redet und wann man besser schweigt.
Es ist später Nachmittag, der Himmel nun so tiefblau, wie er nur hier im Norden erscheint, als würde man ungehindert und schutzlos direkt in den Weltraum stürzen, als Rafał endlich anhält.
»Von hier aus müssen wir zu Fuß gehen!«, gebärdet er.
Ich folge ihm auf einem kleinen steilen Pfad unter den hohen Nadelbäumen und bin, obwohl er langsam geht, schon bald außer Atem. Ich führe es auf die sauerstoffarme Luft in dieser Höhe zurück.
Dann spüre ich es, lange bevor ich es sehe, ein tiefes Grollen und Rumoren im Fels unter meinen Füßen, als würde ein Gewitter darin toben. Mit jedem Schritt schwillt das untergründige Getöse an, bis aus dem Grollen ein Beben wird. Und plötzlich öffnet sich der Wald, und der Pfad endet oberhalb einer tiefen Felsschlucht, kaum breiter als mein Wohnblock. Und ein reißender Bach, durch das Schmelzwasser fast zu einem kleinen Flüsschen angeschwollen, stürzt hier wohl fünfzig Meter in die Tiefe und dann über mehrere Felsstufen weiter in ein großes Becken oder einen kleinen See am Talgrund.
Ich stehe erschüttert da und schließe die Augen. Das hinabdonnernde Wasser versetzt jede Faser meines Körpers in Schwingungen. Zunächst ist es nur ein diffuses, grobkörniges Rauschen. Doch dann bildet mein Hirn Ordnungen, Muster, Hierarchien, wo eigentlich keine sein dürften, spürt einen Rhythmus im wilden, zufälligen Erzittern, unterscheidet den Generalbass des Großen Falls vom Ratschen und Schnarren der Kaskaden mit ihren je eigenen Oberstimmen. Das alles klingt in meinen Knochen wie eine riesige Naturorgel mit zwar begrenzten, aber mächtigen Registern. Ich fühle ihren Atem, ihren eigenen Herzschlag, langsamer als der eines menschlichen Herzens, träge wie ein riesiges steinernes Pendel, aber bis ins Mark lebendig.
Lange stehen wir da, und Rafał lässt mich in Ruhe lauschen. Ich lege mich lang auf den nackten, eiskalten Felsen, und auf einmal ist es, als befände ich mich
Weitere Kostenlose Bücher