Die Laute (German Edition)
du nicht, wenn du etwas brauchst?«
Das war’s dann wohl, denkt Asis. Ist vielleicht auch besser so. Er war hier ohnehin schon viel zu lang zu Gast.
Kopfschüttelnd wendet sich der Zollinspektor von Asis ab und setzt sich an seinen Schreibtisch. Er nimmt ein Blatt Papier und seinen wiedergefundenen Parker und schiebt beides zu Asis. Was will er denn noch? Eine Erklärung? Eine Entschuldigung?
Asis presst die Lippen aufeinander und hält die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Warum wirft Ali ihn nicht einfach hinaus? Wahrscheinlich möchte er das Ganze erst noch verstehen! Aber hier gibt es nichts zu verstehen. Asis versteht es ja selber nicht. Und er will auch gar nicht, dass Ali ihn versteht, wie überhaupt kein Jugendlicher auf der Welt von einem Erwachsenen verstanden werden will! Er will nur noch zurück in sein Bett und vierundzwanzig Stunden durchschlafen, dann Tante Raufas Kunstlederkoffer packen und für immer von hier verschwinden.
DIE BÜHNE . Ich sehe einen hellen weißen Raum, einen Kasten, rechteckig, zwei Seitenwände, eine Rückwand und eine Decke, alles weiß. In der Mitte steht ein schwarzer, blattloser Baum, ein Astgerippe, sonst nichts, keine Landschaft, kein Dekor. Der Raum ist fenster- und türlos, eine Zelle. Das Licht ist kaltes, weißes Neonlicht, die Atmosphäre fast klinisch. Farbe gibt es erst, wenn Marsyas’ Blut fließt.
Apollon trägt einen weißen Sommeranzug, die Musen sind in schlichte, zeitlos weiße Kleider gehüllt, alle neun haben platinblondes, fast weißes Haar.
Und Marsyas? Ich stelle ihn mir in lässiger Straßenkleidung vor, Jeans, T-Shirt, Sneakers, Baseballcap, das, was siebzehnjährige Rapper in der Bronx gerade tragen.
Und Athene trägt eine silberne Rüstung mit glänzendem Helm und Visier. Oder eine schwarze Abaja mit Gesichtsschleier. Oder weiße OP -Kleidung mit Haube, Latexhandschuhen und Mundschutz.
Braucht man sie überhaupt auf der Bühne? Vielleicht reicht ein Video, die Göttin unter dem Wawel am Weichselufer, die ein schwer zu spielendes Instrument, eine Oboe oder ein Horn, zu blasen versucht, ohne ihren Mundschutz abzunehmen.
Die Haut ist mit ungefähr zwei Quadratmetern das größte und nervenreichste Organ des Menschen. Sie wiegt bei einem durchschnittlichen Erwachsenen sechs bis sieben Pfund, Marsyas’ Haut ein bisschen weniger, Apollons ein wenig mehr.
Jeder Mensch besitzt einen genetisch festgelegten, individuell einzigartigen Hautgeruch. Marsyas riecht nach jungem Reh, feuchtem Moos und destilliertem Harnstoff.
Nach was riecht Apollon?
Elefanten können nicht schwitzen. Ist kein Wasserloch in der Nähe, haben sie bei großer Hitze ein Problem.
Jedes einzelne Haar hat seinen eigenen Muskel, den Haarbalgmuskel. Bei Kälte, Erregung oder Angst kommt es zu einer Kontraktion, der Haarfollikel bildet eine kleine Erhebung, das Haar richtet sich auf.
Marsyas’ Haar ist außer auf dem Kopf, unter den Achseln und über dem Geschlecht spinnwebfein, hellblond und kaum zu sehen, sodass man glauben könnte, Arme, Brust und Beine seien vollkommen unbehaart.
Aus Apollons aufgeknöpftem Hemdausschnitt quillt ein schwarzes lockiges Fell aus Brusthaar, das sich vermutlich bis über die Schultern erstreckt und nahtlos ins sich bereits lichtende Haupthaar übergeht.
Musik bei offenem Fenster. Von der Straße schallt das Röhren, Dröhnen, Rauschen des Autoverkehrs, in sich differenziert in verschiedene Motorarten, abhängig vom Wetter und Straßenbelag, dann ein Flugzeug, ein Hubschrauber, eine Autohupe, die Klingel eines Eisverkäufers, Kindergeschrei, Hundegebell, die verschiedenen Sirenenklänge der Polizei- und Rettungswagen, Kirchenglocken; aus dem Hinterhof drei verschiedene Radiosender, Nachrichten, Rock, Jazz, Interviews, Bach, Johannespassion, Müllmänner, die Plastiktonnen mit Bunt- und Weißglas aus dem Hof karren, Babygeplärr, die ungeduldige Stimme der Mutter.
Flöte und Laute. Apollons Laute, Zupf- und Schlaginstrument, sollte ich vielleicht durch reines Schlagzeug ersetzen. Vor allem das Schlagzeug hat ein noch vollkommen unausgeschöpftes Geheimnis bewahrt. Die Androgynität der Laute aber lässt den Gott zu feminin erscheinen. Ich stelle mir Apollon hart und grausam vor.
Effekt-Instrumente. Guiros, Tom-Toms, Maracas, Congas, Agogós, Sistra, Danzas, Cabaza, wie im
Schwarzen Madrigal
.
Marsyas hat Mühe mit der Aussprache mehrsilbriger Wörter. Deshalb sollte er sie mehrmals singen / sprechen, jedes Mal anders betont.
Vielleicht
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