Die Laute (German Edition)
gegessen. Kann man unsere Beziehung überhaupt Freundschaft nennen? Eigentlich ficken wir ja nur miteinander und haben uns sonst nicht viel zu sagen.
Von meinem Schlaf- und Arbeitszimmer aus schaue ich in den Hof. Dort gibt es noch eine alte Wasserpumpe. Ein Schild warnt: KEIN TRINKWASSER ! Aber sie funktioniert einwandfrei. Die Kinder benutzen sie für das alltägliche
Water-boarding
ihrer verhassten Kameraden, die nacktbrüstigen Männer in den Trainingshosen zum Waschen ihrer Autos.
Das Küchenfenster geht nach vorn, zur ulica Ludźmierska hinaus. Dort sehe ich die Frauen mit Kopftüchern und bäuerlichen Gesichtern auf dem breiten Gehweg sitzen, wo sie den Passanten Blumen, Obst oder Gemüse aus eigenem Anbau anbieten. Zehn Minuten von meinem Wohnblock entfernt beginnt ja bereits die Idylle. Ein See, von Trauerweiden umstellt, eine sandige Dorfstraße, die Häuser und die Kirche aus Holz wie ein Dorf in der Hohen Tatra. Soviel ich weiß, kamen die meisten Hüttenarbeiter vom Land, also hat man dieses Dorf hier stehen gelassen und das Neue Jerusalem der Stahlarbeiter drumherum gebaut, damit sie, wenn das Heimweh allzu groß wurde, es nicht weit hatten.
Die wenigen alten Männer auf der ulica Ludźmierska tragen Strohhüte oder ein großes Taschentuch um den Kopf geknotet, sodass auch sie wie alte Bäuerinnen aussehen.
Im ganzen Viertel gibt es kein einziges Café, nur zwei Pizzerien mit der Ausstrahlung von Werkskantinen. Selten esse ich dort, doch wenn ich mich von der leberquetschenden Traurigkeit dieser Restaurants zu einem Besuch habe verführen lassen, schließt sich nahezu reflexhaft ein Rundgang über Nowa Hutas Friedhof an. Fotografien schmücken die Grabsteine. Das gibt es in Ibb oder Aden nicht. Von den meisten Verstorbenen sind hier Jugendbilder ausgestellt, obwohl die wenigsten jung gestorben sind. Alle waren sie Hüttenarbeiter. Und so macht es Sinn, dass hinter den Gräbern die Hüttenschlote in den Himmel ragen.
Die Schlote rauchen noch, obwohl Tausende entlassen wurden. Verleihen diesem Stadtteil nach wie vor seinen besonderen Geruch nach Torf, Kabelbrand und Krematorium. Die aleja Solidarnósci, die früher Leninallee hieß, führt zum Sitz der Direktion, eine baumbestandene Plattenbauprachtallee, hin zu einem Industriepalast wie aus Fritz Langs
Metropolis
.
Auf manchen Steinen stehen nur die Geburtsdaten, der Platz für den Sterbetag ist noch freigelassen. Hier haben sich offenbar noch Lebende bereits eine Grabstatt reservieren lassen und sich sogar schon den passenden Grabstein und eine treffende Inschrift ausgesucht. Nur die Fotos fehlen noch. Und das Sterbedatum natürlich. Sicher ist es sinnvoll, die Auswahl eines ansprechenden Fotos jenen zu überlassen, die sich später um das Grab zu kümmern haben.
Ich hasse alte, fettige Pierogi vom Vortag.
Wenn ich in den Badezimmerspiegel schaue, blickt mich mein Vater an. Das Gesicht meines Vaters, wie es vor zwanzig Jahren aussah, als ich noch in seinen Schuhen auf dem Fußballplatz stand. Damals wollte ich noch so werden wie er, und die Ähnlichkeit ist zweifellos nicht nur der Bosheit der Gene geschuldet. Aber das ist auch schon alles an Nähe. Das Weitere, das heißt, alles was nach dem Blitz geschah, ist eine Geschichte der Entfremdung. Welches Gesetz zwingt Menschen, die sich so fremd sind, einen Großteil ihres Lebens aneinandergefesselt zu verbringen? Mein Vater war froh, als ich schließlich nach Aden ging.
Dabei hat er mich geliebt. Meine Schwestern hingegen, die geblieben sind, hat er gehasst. Nie hätte er es auszusprechen oder auch nur zu denken gewagt. Aber gefühlt hat er diesen Hass. Und meine Schwestern und ich haben es gewusst.
Noch während der Schwangerschaft meiner Mutter hat er seine Erstgeborene, meine Schwester Nasik, zu hassen begonnen. Niemand hat ihn gewarnt, was es wirklich bedeutet, Vater zu werden. Niemand hat ihn beiseite genommen und auf die Veränderungen hingewiesen. Und kaum ein Jahr später wurde die zweite Tochter geboren, Aschraka, und du hast nur die Mängel und Fehler gesehen, die Hässlichkeit der Neugeborenen, ihre Kränklichkeit, ihre Tollpatschigkeit, ihr Gesabber, ihre Zahnschmerzen, ihren Windelgeruch. Du sagst: »Wein doch!«, und Nasik weint. Du sagst: »Lach doch mal!«, zweimal, dreimal, immer wieder, bis Nasik weint und du dich vor Lachen schüttelst und meiner Mutter zurufst: »Schau dir diese Heulsusen an!« und dann ernst: »Das nächste Mal gibst du mir einen Sohn, Frau, sonst nehme ich
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