Die Laute (German Edition)
das Gastrecht weiterhin verletze, habe die Maschine unverzüglich zu verlassen.
Diesen Ton scheinen die greisen Patriarchen mit den jugendlichen Ehefrauen, die fast ihre Enkelinnen sein könnten, und die vielen jugendlichen Ehemänner und Väter, fast selbst noch Kinder, mit den Säuglingen auf dem Schoß wenigstens zu verstehen. Und ich, der verlorene Sohn, ledig, kinderlos, sitze als der einzige und wahre Fremde unter ihnen.
Plötzlich wird mir bewusst, dass meine linke Hand mit meinem steifen Glied spielt. Steif nicht aus Erregung, sondern wegen des morgendlichen Drucks auf der Blase. Ich stehe auf, gehe ins Bad, spüre die Kälte der Fliesen unter meinen nackten Fußsohlen, pisse im Stehen in die Kloschüssel, was ein Araber normalerweise nicht tut, nur Hunde pinkeln im Stehen, spüle mir den Mund aus, den schlechten Geschmack von der Zunge, gehe in die Küche, koche mir einen Tee und kehre mit dem dampfenden Becher ins noch warme Bett zurück.
Und wieder erschüttert ein plötzliches Poltern und Stampfen aus der Wohnung über mir Boden und Wände und Bettpfosten. Es waren wohl auch er oder sie oder beide, die mich aus meinem Raumflug zurückgeholt und zur harten Landung genötigt haben. So kann es nicht weitergehen! Habe nur drei Stunden geschlafen. Und heute Nacht steht bereits die nächste Schicht am Flughafen an.
Vögel stecken ihr Territorium durch Rufe oder Gesänge ab, akustische Duftmarken sozusagen. Diese akustische Kennzeichnung des eigenen Gebiets ist älter als jeder Grenzzaun.
Das, was die beiden über mir tagtäglich veranstalten, ist nichts anderes als eine permanente Verletzung meines Territoriums, ein ständiges Emittieren von Lärm in meinen privaten Raum. Der Körper endet nicht an der Haut. Auch die Störung meiner Ruhe ist eine Art Körperverletzung!
Liebe Nachbarn
,
wenn euch an einer guten Nachbarschaft
gelegen ist, nehmt mein kleines Geschenk bitte an!
Mit freundlichen Grüßen, Asis ibn Ali al-Asadi
Ich überfliege noch einmal diese wenigen Worte, die ich auf das gelbe, quadratische Post-it-Blättchen mit der Klebeleiste auf der Rückseite gekritzelt habe, reiße es angewidert vom Block und steige mit ihm und dem Schuhkarton zur Nachbarwohnung hinauf. Dort hefte ich meinen selbstklebenden Notizzettel an die abgestoßene zahnsteinfarbene Wohnungstür, direkt neben dem Sicherheitsschloss, damit das junge Paar, das mich seit ihrem Einzug vor vier Monaten nun fast schon zum potenziellen Mörder hat werden lassen, ihn auf gar keinen Fall übersieht. Ich nehme die zwei Pantoffelpaare mit den dicken Filzsohlen aus dem Karton und stelle sie ordentlich nebeneinander an die Flurwand. Nur die Schokoladenfüllung fehlt. Ich hätte ja glühende Kohlen hineingelegt, wenn der Filz nicht so leicht entzündlich wäre.
Neben Wohnungsspaziergängen in Stöckelschuhen oder hartledrigen Halbschuhen sind die weiteren Lieblingsbetätigungen meiner beschenkten Nachbarn das Wäscheschleudern und das Bohren von Löchern. Auch wenn es im Augenblick verdächtig still ist. Wenigstens einer von ihnen, ich weiß nicht, ob er oder sie oder auch beide, hat wenigstens einmal am Tag oder auch am späten Abend oder frühen Morgen eine neue Leitung zu verlegen oder einen neuen Hängeschrank an die Küchenwand zu dübeln. Kräftige, unverwüstliche Bohrmaschinen aus sozialistischer Produktion, laut wie Sowjetpanzer aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Der Kriegsschauplatz: Mein Kopf. Getötet werden unzählige Gedanken und Ideen.
Sie heißt Elena, er Bogdan. Sie ist Friseurin und sieht aus wie eine in Milch gebadete Krähe. Hätte Paris sie nach Ilion entführt, stünden Trojas Mauern noch. Er, Bogdan Wolski, passt nicht recht zu ihr. Er ist ein wenig jünger als Elena, hat strähniges, langes, walnussbraunes Haar und wässrigblaue Augen und trägt einen Anzug, wenn er aus dem Haus geht, nicht weil ein Arbeitgeber das von ihm verlangte, er ist selbständig und arbeitet in seiner Wohnung über mir, nein, er trägt seine Anzüge aus reinem Vergnügen.
Ich kehre in meine Wohnung zurück und setze mich an den Schreibtisch. Noch immer ist es still. Als hätte ich tatsächlich auf sie geschossen. Nicht nur in meinem Kopf. In ganz Nowa Huta ist es plötzlich still. Verlassene Straßen, leere Plätze, schweigende Häuser. Auf dem plac Centralny eine Voliere toter Vögel, auf der ulica Gontyna beinamputierte Tänzer und im ganzen Wohnblock nach Gas riechende Küchen. Als Doktor Fuad mir sagte, ich käme in eine
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