Die Laute (German Edition)
mir eine zweite!«
Und dann werde ich geboren. Und du wirst ein anderer Mensch. Meine Tobsuchtsanfälle! Ich bin drei, vier Jahre alt und zerschlage mit kindlich-grausamem wutverzerrten Gesicht die Lieblingsdinge meiner Schwestern, und alle finden das in Ordnung. Rotzverklebte Lider, Ohrenschmalz, Urinflecken, der galligsüße Gestank erbrochener Muttermilch, und alle lieben mich. Wenn ich krank bin, darf ich im Bett der Mutter liegen, und du musst dir im Diwan einen Platz für die Nacht suchen. Ich genieße dieses Gefühl der Auserwähltheit, genieße deine Verbannung, und selbst meine Mutter scheint es zu genießen, denn es brauchte nur eine kleine Erkältung oder ein wenig erhöhte Temperatur, um dich aus dem Ehebett zu verbannen.
Das Lichtzeichen. Ich öffne. Cześka lächelt nicht zurück, als ich mich zu einem Begrüßungslächeln zwinge. Beharrlich schaut sie an mir vorbei, als könne es gefährlich sein, wenn unsere Blicke sich einmal träfen. Sie geht gleich ins Schlafzimmer. Aber sie zieht sich noch nicht aus. Ihr Blick sucht systematisch die Stoßkanten aller Tapetenbahnen an den Zimmerwänden ab. Ich bin nicht irritiert, kenne das bereits. Immer ist ihre Aufmerksamkeit auf wenige belanglose Dinge gerichtet, tropfende Wasserhähne, Messingklinken, Fugen zwischen Küchenfliesen, Badkacheln oder Gehwegplatten, kariertes Papier … Dinge, nicht Menschen.
Statt mit Ja oder Nein zu antworten, wiederholt sie die Frage.
Ansonsten aber kommt sie gleich zur Sache. Mir ist das nur recht. Nachdem sie alle Stoßkanten überprüft hat, zieht sie sich aus. Veränderungen, zum Beispiel umgestellte Möbel oder ein neues Bild an der Wand, beunruhigen sie. Ich verstehe das. Wir haben genug Chaos in unseren Köpfen und müssen nicht auch noch für Unordnung in unserer unmittelbaren Umgebung sorgen.
Wir schlafen miteinander, als würden wir uns über Fußball unterhalten, ohne uns wirklich für Fußball zu interessieren. Und natürlich unterhalten wir uns nicht. Zumindest nicht mit Worten.
Sie will, dass das Fenster dabei offen steht, egal wie heiß oder kalt es draußen ist. Die Heizung ist ständig voll aufgedreht. Trotzdem wird die Luft nicht richtig warm. Nur trockener, sodass sich, nachdem sie gegangen ist, die Haut wie eingelaufene Wäsche über meinen Körper spannt und das Gesicht sich anfühlt wie aus Papier.
Sie besitzt eine ganz eigene merkwürdige Art von Attraktivität. Sie ist größer als ich, langbeinig, langhalsig und sehr blond. Wenn sie spricht, erzeugt ihre Stimme Vibrationen wie ein Massagestab. Aber sie spricht selten und wenig.
Ansonsten weiß ich nicht viel von ihr. Vor allem weiß ich nicht, was sie eigentlich an mir findet, außer dass ich fünfzehn Jahre jünger bin als sie. Am liebsten ist sie für sich, so wie ich. Sie hat keine anderen Freunde als mich, das macht mir manchmal etwas Angst. Sie lebt bei ihrer Mutter, der ich noch nie begegnet bin und der ich auch nicht begegnen will. Ich stelle sie mir bettlägerig und pflegebedürftig vor. – Doch in ihrem Beruf als Filmrestauratorin, davon bin ich überzeugt, ist Cześka unschlagbar.
Manchmal bringt sie Arbeitsreste mit, Zelluloidschnipsel, Szenen, die sie gerade bearbeitet hat oder die ihr im Lauf des Tages unter die Finger gekommen sind, meistens Ausschnitte aus Stummfilmen, Raritäten, kopiert auf eine DVD , damit wir sie uns gemeinsam noch einmal ansehen können, eine Geste, die so gar nicht zu ihrer sonstigen, eher abweisenden Art passt.
Vielleicht ist unsere erste Begegnung daran schuld, dass sie anstatt Pralinen oder Wein diese Filmschnipsel mitbringt. Ich glaube, im Grunde ist sie ein phantasieloser Mensch. Zumindest dringt ihre Phantasie niemals bis an die Oberfläche oder darüber hinaus.
Wir trafen das erste Mal im Kinosaal des Filmmuseums aufeinander.
The Big Sleep
. Es blieb uns gar keine andere Wahl als einander zu begegnen. Wir waren die einzigen Zuschauer.
Ich kannte bereits den Roman von Dashiell Hammett. Und Bogart kam mir gleich wie eine zwar strenge, doch meinen eigenen Phantasien nahe kommende Traumversion von Hammetts Helden vor. Das passiert mir selten. Meistens bin ich von Literaturverfilmungen enttäuscht, weil ich mir die Charaktere ganz anders vorgestellt habe. Doch Marlowe / Bogart entscheidet sich immer für jenen Pfad, der die meisten Gelegenheiten verspricht, ordentlich zusammengeschlagen zu werden. Aus dem dunklen Universum der Empfindungslosigkeit steigt er grün und blau geprügelt auf ins Licht des
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