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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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ihr Spiegelbild in einem Weiher erblickt und bemerkt, wie lächerlich ihr entstelltes Gesicht aussieht, wirft sie die Flöte fort.
    ZWEITES BILD : KYBELES TROMMELN
    Marsyas, der junge wilde Silen, zieht mit der irren, trommelschlagenden Kybele durch Phrygien.
    Er findet den Aulos und spielt ihn von Anbeginn wie ein Gott.
    DRITTES BILD : DER AGON
    Der
Agon
oder Wettstreit ist die höchste Herausforderung in der Kunst. Manchmal treten die Musen selbst in den Wettstreit, manchmal üben sie auch nur das Richteramt aus. → CHOR DER MUSEN
    VIERTES BILD :
    FÜNFTES BILD : DIE HÄUTUNG
    MARSYAS , Faun. Altstimme
    APOLLON , Gott des Lichts. Mezzosopran
    NYMPHEN , Gefährtinnen des Marsyas. Nebelschwaden, die vom Fluss, vom Ende, von der Mündung her aufsteigen und unbestimmt und geheimnisvoll bleiben (flächige Polyphonie, Überblendungen, Stille)
    MUSEN , Richter im Wettstreit. Sample verschieden voller Kristallgläser oder Weinflaschen, deren Klang elektronisch weiterverarbeitet und variiert wird.
    Marsyas’
Aulos
ist ein Instrument aus zwei zylindrischen oder leicht konischen Schilfrohrhalmen. Jedes Rohr hat fünf Grifflöcher.
    Ich stelle mir seinen Klang röchelnd und klagend vor, eine Ausstülpung der Bronchien. Aber es bleibt aus der Komposition verbannt. Keine Lungenergüsse!
    Reine elektroakustische Klänge, die tropfenartig beginnen und in einem Strom aus Blut enden. Wie klingt Eisenoxyd?
    Konkrete Alltagsgeräusche, Husten, Bahnhofsdurchsagen, Küchengeräte … werden durch Marsyas’ ordnende Hand zu einer ironische Ode an die Freude (Collagenstruktur, Hörkino)
    Trotz aller pluralen Stilistik und poetischen Strukturbrüche bleibt die Komposition narrativ.
    Wechselnde Spielarten der Realitätswahrnehmung; intermediales Potenzial von Klang-Bildern und Farb-Tönen
    MARSYAS
    Es scheint als lernten wir hier was
    Poesie ist
    Adam Twardowski wohnt im zweiten Stock eines Jugendstilhauses in Stare Miasto, nicht weit vom Planty, dem Parkgürtel rund um die Krakauer Altstadt, entfernt. Von dort kann ich später am Abend dann gleich in den 292er zum Flughafen steigen.
    Ich zeige ihm ohne weitere Erklärungen die überarbeitete Marsyas-Ouvertüre. Er starrt auf meine eigenwillige Notation, zwölfstufige Skalen, die den Grundgeräuschen Tonhöhen, Tonlängen und Rhythmuspotenziale zuordnen. Jede Klangzelle besitzt jeweils drei Skalenwerte.
    Er schüttelt den Kopf. Es sieht eher wie ein unwillkürliches Ruckeln aus. Vielleicht hat er das System schon wieder vergessen. Sein Gedächtnis funktioniert schon länger nicht mehr gut. Dabei ist die Notation gar nicht so abstrakt, wie sie aussieht. Aber natürlich lässt sich diese Art grafischer Darstellung nicht gleich in Klänge übersetzen.
    »Spiel es mir vor!«, bittet er mich. – Ich schließe den Lautsprecher seiner Stereoanlage an meinen Laptop an und folge dem akustischen Balken im Tonmenü. Ich weiß nicht, was er hört, die mir zugekehrte Gesichtshälfte bleibt leblos und starr. Ich habe versucht, meine Vorstellung der Klänge so gut wie möglich dem inneren musikalischen ›Ereignis‹ anzunähern.
    Das, was andere denken, fühlen oder tun, überrascht mich schon lange nicht mehr. Doch schaue ich mich selbst an, kann ich mir das alles noch immer nicht erklären. Sind das heilige oder verfluchte Dinge? Der Kopf ist leer, dann schneien diese Klangflocken in die Leere und zerschmelzen zu dieser ätzenden Süße. Dieser Schnee oder Hagel oder manchmal auch nur klebrige Nebel erscheint mir ein wenig wie Sex, genauer: wie ein plötzliches, ganz und gar unerwartetes, ja ungewolltes Verlangen, das sich materialisiert. Fluch oder Segen? Unerklärliche, unaufhaltsame, klebrige Phänomene. Genießen wir diese Entladungen überhaupt? Erleiden wir sie nicht viel mehr?
    Als er vergeblich auf weitere Töne lauscht und die Stille nicht nur eine längere Pause signalisiert, sondern das Ende der Ouvertüre, macht er mir ein Zeichen, den Rechner auszuschalten. Er schreibt, er verstünde diese Musik nicht, er wisse nicht, woher die Klänge kämen und wohin sie gingen.
    Ich hasse es, meine Musik erklären zu müssen. Doch zweifellos hat mein Lehrer das Recht auf eine Antwort. Es handle sich um Miniaturen, schreibe ich, kurze Ereignisse, deren Folgen noch nicht absehbar sind. Jedes Klangereignis stehe für sich und werde nur vom rasenden Puls der Rhythmusmaschine mit den vorangegangenen und nachfolgenden Ereignissen verklammert.
    Er liest meinen Erklärungsversuch und schweigt. Ich weiß

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