Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
verlasse, ein unerklärliches Schuldgefühl. »Ich habe heute Nachtschicht«. erkläre ich überflüssigerweise. Adam nickt. Ob er wohl immer noch an Schlaflosigkeit leidet? Ich frage ihn nicht und werde ihn niemals fragen. Obwohl ich ihn nun endlich im Billard schlagen könnte.

Was für eine wunderbare Maschine! Sie wiegt nur etwa ein Fünftel von mir und verleiht mir dennoch Flügel. Ich bin fünfmal so schnell wie zu Fuß und komme mit der gleichen Kraftanstrengung fünfmal weiter. – Hier, auf dieser Fahrt bergab, verbraucht sie sich allein im Abbremsen. Habe in meinen Fingern bereits einen leichten Krampf
.
    Rafał behauptet, erst mit dem Radfahren habe der Mensch in seiner Evolution alle anderen Tiere überflügelt. Bezogen auf sein Körpergewicht bewege er sich damit effizienter fort als ein Pferd, ja als ein Lachs und eine Möwe
.
    Am Friedhofseingang, uns im Weg, zwei Blumenstände, deren Töpfe und Vasen mit Schnittblumen die halbe Fahrbahn okkupieren. Dazu Grablampen in weiß und rot, Kerzen und Teelichter. Nennt man sie auch dann ›Teelichter‹, wenn sie gar nicht für das Warmhalten von Teekannen verwendet werden?
    Auf Polnisch heißt das Fahrrad
Rower,
nach der ersten weltweit erfolgreichen Fahrradmarke
Rover,
Wanderer, des Engländers John Kemp Starley, dessen Onkel James bereits das Hochrad erfunden hatte
.
    Viele Besucher sind unterwegs, obwohl der Ostermontag, der Emmaustag, wie man ihn hier nennt, gar kein offizieller Feiertag ist. Und es sind nicht nur alte Leute, die mit großen Sträußen gelber und violetter Schnittblumen im Arm auf das Friedhofstor zustreben, sondern auch viele jüngere Begleiter, von denen nahezu alle gerade telefonieren oder Kurzmitteilungen in ihre Handys tippen
.
    Daheim, ich meine im Jemen, ist ein Friedhof nur gut besucht, wenn gerade jemand beerdigt wird. Und dann auch nur von Männern, während die Frauen still zu Hause trauern. Danach bleibt das Grab unbesucht, bis zum Jüngsten Gericht. Womöglich sogar darüber hinaus. Keine Blumen, keine Kerzen, keine Grabsteine, keine Kurzmitteilungen
.
    Als ich das erste Mal durch Krakaus Straßen laufe, wundere ich mich, wie wenig Männer zu sehen sind. In Ibb oder Aden sind fast nur Männer auf der Straße
.
    Auf der schmalen Friedhofsallee geht es noch sanft bergab. »Je schneller die Fahrt, desto höher der Luftwiderstand«, hat Rafał mir erklärt. Aber das ist nicht ganz korrekt. Denn der Luftwiderstand nimmt mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zu, die erforderliche Leistung sogar in der dritten Potenz. Ich habe mich vor diesem Experiment genau informiert. Fahre ich also doppelt so schnell, muss ich achtmal kräftiger in die Pedale treten
.
    Doch bei zwanzig Stundenkilometern und Windstille verbrauche ich den größten Teil meiner Leistung bereits dafür, den Luftwiderstand auszugleichen
.
    Rafał schaut mir lächelnd nach, dann dreht er sich um und sprintet zu seinem eigenen Rad zurück. Ich bezweifle, dass er mich jetzt noch einholen wird
.
    Der Geschwindigkeitsrekord für Human Powered Vehicles, sprich Fahrräder, liegt bei einhundertelf Stundenkilometern. – Diesen Rekord scheine ich in Kürze eingestellt zu haben
.
    Der Verlust des Freundes ist die Voraussetzung für jede metaphysische Erfahrung. Jetzt erst beginnt der Held, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist, abgründig, grausam, gnadenlos dumm
.
    Der Verlust des Freundes ist die Voraussetzung, sich dieser geheimnislosen Wirklichkeit zurückzugeben. Der Verlust schenkt ihm äußerste Klarsicht. Es ist absolut aussichtslos, weiter über den Sinn oder Unsinn unseres Daseins nachzugrübeln
.
    Der alleingelassene Held: Sein Werk atomisiert alle vorangegangenen Lebens- und Leseerfahrungen
.
    Dieser Held ist gefährlich. Der Verlust stimmt ihn völlig gleichgültig. Gibt es noch eine Zukunft, so lässt sie ihn kalt. Er teilt dieses Schicksal mit den anderen Großen, Armut, Alkohol, Impotenz, Einsamkeit, Blindheit, Schwindsucht, Syphilis, Starrsinn. Der delirierende Künstler in der Anstalt seines gefährdeten Körpers
.

13
    Als er an diesem Freitag zu Inajas Haus aufbricht, fühlt er, dass etwas Bedrohliches in der Luft liegt. Er spürt es bereits, als er das Haus seines Onkels verlässt, trotzdem kehrt er nicht um. Es kommt ihm vor, als läge das Böse in der Luft und als sei es unvermeidlich, sich ihm auszusetzen, da man ja atmen müsse.
    Vielleicht liegt es auch nicht in der Luft. Vielleicht sind es die Blicke der Nachbarn in Inajas Gasse, oder vielmehr eine

Weitere Kostenlose Bücher