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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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nicht, ob er meine Worte verstanden hat. Schon länger bin ich mir nicht mehr sicher, was er überhaupt noch versteht.
    Ich erinnere mich noch gut an den ersten Besuch in dieser Wohnung, an einem Januartag vor fast zehn Jahren. Damals war er ein immer noch berühmter, aber schon lange kein gefeierter Komponist mehr. Seinen Lebensunterhalt musste er vor allem mit Kompositionsunterricht verdienen. Die alten Werke wurden nicht mehr aufgeführt, für die neuen interessierte sich keiner mehr.
    Überall lagen riesige Partiturseiten in unterschiedlichen Notationssystemen auf dem Boden. Auf dem Flügel im Arbeitszimmer stapelten sich Noten, Bücher, CD s. An den Wänden reichten die Regale mit Literatur aller Gattungen, Bildbänden und Atlanten bis unter die drei Meter hohe Stuckdecke. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er sich in diesem Chaos zurechtfand. Aber Adam Twardowski schien damit kein Problem zu haben.
    Nachdem er das Empfehlungsschreiben von Dr. Fuad, seinem ehemaligen Studienfreund, kurz überflogen hatte, sprach er gleich drauf los, ein konsonantenreiches Englisch, wollte wissen, was und bei wem ich bisher studiert hätte. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fragt er, wie alt ich sei, ich sei ja noch so jung, im Grunde gehe es ja nur darum, Lücken zu füllen, denn was sei Musik? Die Zeit zwischen zwei Punkten, ihrem Anfang und ihrem Ende. Die Reise von einem Punkt zum anderen, ein unvorhersehbares Abenteuer, ein mysteriöser Raum, vager Vordergrund, unscharfer Hintergrund, verschlungene Wege, wüstes Land, Gebirgsketten, Höhlen, Kammern ... Ich hatte große Mühe, seinem Sermon zu folgen. Nach einer weiteren Frage, die ich nicht verstand, weil er den Kopf abwandte und mit einer großen Geste auf die Noten- und Skizzenblätter wies, nahm ich meinen Notizblock und schrieb: »Ich bin taub.«
    Er liest die drei Worte, schweigt eine Weile, verblüfft, doch bin ich sicher, dass Dr. Fuad in seinem Brief alles ausführlich erklärt hat, lässt meine Notiz in seinem Kopf arbeiten, Bedeutung annehmen, stellt womöglich auch die eine oder andere Berechnung an, wie dringend er einen weiteren Schüler braucht, zumal einen Schüler, der kaum das übliche Honorar wird zahlen können, und sagt nach einer langen, sehr langen Generalpause mit einem gequälten Lächeln, aber deutlich akzentuiert: »George Igaurito ist ein berühmter blinder Maler. Und bekanntlich war Beethoven taub, zumindest in seinen letzten Lebensjahren, und wohl auch manch anderer unserer berühmten Komponisten, sonst ließe sich so manches ihrer Werke kaum entschuldigen. Also lass es uns miteinander versuchen! Wie war noch mal dein Name?«
    Notenblätter liegen nun allenfalls noch auf dem Boden, wenn er sie aus Versehen fallen lässt. Ansonsten sind breite Schneisen für seinen Rollstuhl in allen Zimmern freigeräumt. Ich bin der einzige Schüler, den er nach seinem Schlaganfall behalten hat. Es hätte mir nicht sehr leid getan, wenn er sich auch von mir verabschiedet hätte. Ich besuche ihn schon lange nicht mehr aus Wissbegierde, sondern aus einem diffusen Gefühl heraus, ihm noch etwas schuldig zu sein. Ich brauche keinen Lehrer mehr. Und er hält wohl eher aus einem ebenso unnötigen Verantwortungsgefühl an mir fest. Ich weiß nicht, ob er je ein guter Lehrer war. Er glaubt immer noch an die Moderne, John Cage, Terry Riley, Steve Reich.
    Früher litt er unter Schlaflosigkeit. Nun, nach seinem Schlaganfall, scheint er gar nicht mehr richtig wach zu werden.
    Statt spazieren zu gehen, ein Glas Milch zu trinken oder Proust zu lesen, spielte er bis zum frühen Morgen Billard. Vielleicht reichte das Grasgrün des Filzes ja bis an den Rasen im Planty. Manchmal ließ ich mich überreden, ihn nach dem Unterricht in den Billardsalon in der ulica Długa zu begleiten und mich von ihm schlagen zu lassen.
    Vielleicht mochte er Billard auch, weil man eine Zeitlang in vollkommenem Schweigen zusammen sein konnte, ohne dass die Stille bedrückend wurde.
    Während eines dieser schweigsamen Spiele schrieb er plötzlich auf den Getränkeblock den Satz: »Übrigens, ich glaube nicht, dass du je ein guter Komponist wirst!«
    Ich erschrak und wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
    »Du fragst zu wenig, willst nicht wissen, wie man Musik erfindet, sondern nur, wie man sie notiert«, ergänzte er nach zwei weiteren, von mir verlorenen Partien. Er schien wirklich sauer. Doch brauchte es zwei weitere Partien, ehe ich verstand. Ich hatte ihm nie vom Blitz und den Klängen in

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