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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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schon!« – In weniger als einer Minute ist Hamid zurück.
    Eine Minute. Asis spürt seine Hände nicht. Nur die Kälte, die vom kalten Hofpflaster in seinen Rücken kriecht. Und das Gewicht des jungen Mannes auf seiner Brust, das ihm fast den Atem raubt. Gott, denkt er. Nur laute Stille. Ferne. Dich rührt das Hier und Jetzt nicht.
    »Setz dich wieder auf seine Beine!«, befiehlt Nassar seinem Bruder und nimmt ihm die Flasche aus der Hand. Hamid gehorcht verstört.
    Nassar schraubt den Verschluss von der Flasche. Asis riecht die ätzende Flüssigkeit, Salpeter- oder Salzsäure. Wahrscheinlich ist es sogar dieser Geruch, der ihn aus der kurzen Taubheit zurück in die Welt der Empfindungen holt. Brutal dreht Nassar ihm den Kopf auf die Seite. Dann schüttet er die Säure in Asis’ Ohr. Asis spürt die brennende Flüssigkeit wie Eiswasser in seinen Kopf rinnen. Er fühlt noch die Erfrierung in seinem Kopf, doch schon nicht mehr, wie Nassar ihm den Kopf auf die andere Seite dreht und auch das zweite Innenohr verätzt. Nassar, der Erstgeborene, ist in allem immer schon ebenso gründlich wie sein Vater gewesen.

14
    Wachen, Schlafen, Stille. Asis hat jedes Gefühl dafür verloren, wie die Zeit vergeht.
    Vor den geschlossenen Lidern ziehen Traumbilder über die innere Leinwand, schwarzweiß, doch rhythmisch. In Schatten übersetzte Melodien. Asis sieht sich auf dünnen, zerbrechlichen Storchenbeinen durch flaches Brackwasser waten, tastend, tänzerisch tapsend. Nase und Kinn verwachsen zu einem langen holzgrauen Schnabel, das feine schwarze Haar, kaum sichtbar auf seiner sonnendunklen Haut, verdickt sich zu Federkielen, ein Vogel im grauen Zwielicht, schwarzweiß gefiedert, unsicher auf den Beinen, noch unfähig zu fliegen. Er singt nicht, er klappert, Asis spürt den Rhythmus, ein trocken knackender Morseton.
    Er spürt die Kälte der Metallstreben des Bettrahmens. Er hält die Augen weiter geschlossen. Die Kälte hat eine Farbe, nicht blau, wie er es bei geöffneten Augen vermutet hätte, sondern scharlachrot wie die Lüge. Er wundert sich weder über die Farbe noch über das Bild. Etwas hinter seinen Lidern, aus dem Innern seines Kopfes, wirft kurz einen Schatten auf die Leinwand und verschwindet wieder. Die Luft wird immer schwerer, verströmt einen betäubenden Geruch von Minze. Sie ist aber nicht grün, wie es vielleicht naheliegend gewesen wäre, sondern von einem stumpfen Silber wie bei abgegriffenen Zehn-Rial-Münzen.
    Ehe er an ihrer Dichte erstickt, weht eine kalte Brise durch seinen Kopf, bläht die Leinwand, lässt ihn frösteln. Das flache Bild wölbt und senkt sich, atmet, eine dritte Dimension. Gleich wird es zu regnen beginnen. Seine metallkalte Hand tastet über das gefiederte, langschnäbelige Gesicht. Es ist regennass.
    Plötzlich wieder Stille. Eine absolute, schwarze, von nichts erhellte Geräuschlosigkeit, keine Melodien, nicht einmal Erschütterungen. Er weiß nicht, wie lange diese Stille andauert, Stunden, Tage ...
    Dann die leichte Vibration vorbeifahrender Autos. Schwingungen des Zimmerbodens, die sich auf den Bettrahmen übertragen. Schritte.
    Sie sitzt an seinem Bett, eine schlichte Frau. Wie lange sitzt sie schon da?
    »Wie geht es dir, Asis?« fragt sie. Er versteht, was sie sagt. Warum auch nicht? Hat er ihr doch ein Leben lang, ohne es zu wissen, jedes Wort von den Lippen abgelesen. Sieht er sie sprechen, hört er ihre Stimme.
    Er sieht sie, und doch ist sie vermutlich der einzige Mensch in Asis’ unmittelbarer Umgebung, den er kaum beschreiben könnte, wenn er dazu aufgefordert würde. Sie ist so selbstverständlich um ihn und in ihm wie die Atemluft oder die eigene Hand, die er genauso wenig beschreiben könnte. Er kann sie einfach nicht mir den Augen eines Fremden sehen. Schon allein die Attribute
schön
oder
hässlich
scheinen für sie vollkommen unangebracht. Genauso gut könnte man fragen, ob der Wind oder die Farbe Weiß schön oder hässlich seien.
    Nein, seine Augen sind für sie blind. Für ihn ist sie einfach die Mutter. Das sagt alles und erhebt sie über jede Beschreibung. So, wie man sich auch von Gott kein Bild machen kann, weil alle Eigenschaften der Welt und keine auf ihn passen.
    Ja, sie ist eine schöne Frau. Denn schön ist, was seiner Mutter gleicht. Was könnte sonst der Maßstab sein? Ihre Bewegungen sind voller Anmut und Güte, zumindest wenn sie sich unbeobachtet glaubt, und ihr Herz versteht selbst dann, wenn der Verstand sich weigert zu verstehen und ihr Mund

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