Die Laute (German Edition)
besondere Art des Wegschauens, als er die schmale Gasse betritt und dem Ort seiner Minne entgegeneilt. Eigentlich müssten seine Eingeweide sich augenblicklich zusammenkrampfen, so greifbar steht die Bedrohung vor ihm. Stattdessen setzt er sich auf die Türschwelle des Hauses gegenüber vom Beit al-Khasami und beginnt sein abendliches Spiel.
Keiner der Passanten schaut ihn an. Niemand hält auch nur kurz inne, um ihm zu lauschen. Mit versteinerten Mienen eilen sie an ihm vorbei, als sei er ein Aussätziger, nicht nur abstoßend anzusehen, sondern auch hoch infektiös.
Plötzlich stehen sie vor ihm, Hamid, sein bester Freund, und dessen älterer Bruder Nassar. Sie blicken ihn schweigend an.
Asis unterbricht sein Spiel. »Was ist los?«, fragt er. Und seine Frage klingt so unschuldig, als wisse er tatsächlich nicht, was die Brüder von ihm wollten.
»Komm mit uns in den Hof!«, fordert Nassar ihn auf und packt seinen Arm. Hamid bleibt stumm, doch in seinem Blick liegt etwas Flehendes, Asis möge sich doch losreißen und einfach fortrennen.
»Warum?«, fragt Asis stattdessen.
»Das wirst du gleich erfahren!«
Widerstandslos lässt Asis sich von Nassar in den Hof des Hauses führen. Nicht einen Augenblick lang hat er geglaubt, er werde dort einen Blick auf Inaja werfen können. Dann aber erschrecken ihn die Leere und die Stille hinter der hohen Mauer doch.
»Was wollt ihr von mir?«, fragt er, nachdem Nassar das Tor hinter ihnen geschlossen hat.
»Leg sie dahin!«, befiehlt Nassar barsch. Asis zögert. Dann legt er die Laute vorsichtig auf die Erde, ehe Nassar sie ihm womöglich gewaltsam entreißt.
»Wir haben dich mehrfach gewarnt, Asis!«, stellt Nassar ruhig fest. »Sag, haben wir dich nicht gewarnt?«
Asis schweigt. Er hat schon lange gewusst, dass dieser Augenblick einmal kommen wird. Und dennoch trifft ihn die Situation unvorbereitet. Hamid ist er an körperlicher Stärke sicher ebenbürtig, aber gegen Nassar hat er keine Chance. Und das Haus wirkt kalt und abweisend. Aus dieser Richtung darf er keine Hilfe erwarten. Er weiß, dass er selbst schuld ist. Doch er fühlt sie nicht, die Schuld. Aber das ist nun ohnehin nicht mehr wichtig. Keiner der drei kann an den folgenden Ereignissen noch etwas ändern. Nassar gibt Hamid ein Zeichen, und von nun an spielt jeder nur noch die ihm vorbestimmte Rolle zu Ende.
Plötzlich liegt er mit dem Rücken auf dem kalten Steinboden des Hofs. »Halt ihm die Beine fest!«, ruft Nassar seinem Bruder zu, während er selbst sich auf Asis’ Brustkorb kniet.
»Jetzt ist Schluss mit deinen frechen Auftritten, Bursche! Inaja heiratet in einer Woche, und du belästigst sie nicht länger, hast du verstanden!«
Asis riecht den sauren Atem Nassars, so nah ist das wütende Gesicht des jungen Mannes dem seinen. Er muss getrunken haben. Asis dreht seinen Kopf weg und antwortet nicht.
Nassar packt Asis’ rechten Arm, nagelt ihn mit dem Knie an die kalten Steinplatten, nimmt den lehmbraunen Ziegelstein, mit dem sonst das Hoftor offen gehalten wird, und zertrümmert mit drei, vier schnellen harten Schlägen die Finger des Jungen. Asis bäumt sich auf vor rasendem Schmerz, aber kein Laut dringt aus seinem Mund.
Nassar bleibt ruhig und schwer auf Asis’ Brustkorb hocken. Er lächelt dem Jungen kurz zu, ermutigend, wie es Asis scheint, gibt die verletzte Hand frei und setzt sein Knie nun auf Asis’ linkes Handgelenk. Auch hier schlägt er mit dem schweren Stein rasch hintereinander auf den Handrücken und dann, mit der Präzision eines Chirurgen, auf jeden einzelnen Finger.
Für einen Augenblick spürt Asis den Schmerz nicht mehr, ist taub und blind für das, was um ihn herum geschieht, verliert für Sekunden sogar das Bewusstsein. Doch Nassar ist noch nicht fertig. Offenbar findet er Gefallen an dieser Operation.
»Hol die Flasche mit dem Rohrreiniger!«, befiehlt er seinem Bruder.
»Es ist genug, Nassar!«, entgegnet Hamid weinend. »Siehst du nicht, dass es genug ist?«
»Geh!«, zischt Nassar mit schneidender Stimme und hebt erneut den schweren, blutverschmierten Stein auf. »Ich entscheide, wann es genug ist!«
Hamid springt auf. »Hol dir selbst die Flasche!« In seine Tränen der Verzweiflung mischen sich Tränen der Wut.
»Wenn du willst, dass dein Freund das hier überlebt, tust du besser, was ich sage!«, antwortet Nassar ruhig.
»Er ist schon lange nicht mehr mein Freund!«, schreit Hamid.
Nassar holt aus und zielt auf Asis’ Kopf.
»Warte, Nassar, ich geh ja
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